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Artikel Wohnungspolitik

Wohnungslosigkeit in Hamburg

Eine Aufforderung an die Wohnungspolitik

*** von Stephan Nagel ***

Obwohl Wohnungsnot in Hamburg wieder ein wichtiges politisches Thema ist, stehen die besonders drastisch von dieser Not betroffenen wohnungslosen Haushalte im Schatten der politischen Aufmerksamkeit. Um Wohnungslosigkeit zu bekämpfen und die Zahl wohnungsloser Menschen stark zu reduzieren, bräuchte es eine entschiedene soziale Wohnungspolitik, die über die Förderung des Neubaus von Wohnungen hinausgeht.

Die aktuell in Hamburg zu verzeichnenden Wohnungslosenzahlen (Sommer 2014) haben eine dramatische Dimension.

Viele wohnungslose Menschen, die in den zuständigen Fachstellen für Wohnungsnotfälle um Unterbringung nachsuchen, werden weggeschickt und vertröstet, weil in den Behelfs- und Notunterkünften keine freien Plätze verfügbar seien. Manche von ihnen mögen noch vorübergehend einen Platz auf dem Sofa eines Freundes bekommen; vielen droht mittelfristig die Straße. Der Sozialsenator sprach in diesem Zusammenhang in einem Interview mit Hinz&Kunzt (20.6.2014) von 750 betroffenen Personen. In den Unterkünften und Übernachtungsstätten von fördern&wohnen leben etwa 2.900 und in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege etwa 255 wohnungslose Menschen. Hinzu kommen etwa 2.000 sogenannte „wohnberechtigte“ Zuwanderer in den Unterkünften von f&w.1) Obdachlos auf der Straße lebten nach einer Zählung im Jahre 2009 mindestens 1.029 Menschen, eine Dunkelzifferschätzung ist in dieser Zahl nicht enthalten. Verschiedene Entwicklungen zeigen, dass sich seit der Zählung 2009 die Zahl obdachlos auf der Straße lebender Menschen deutlich erhöht hat. So musste das Winternotprogramm seither stark erweitert werden, nach Beobachtungen der Straßensozialarbeit schlafen immer mehr Menschen draußen; und schließlich hat die Nutzung der niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe stark zugenommen. Vorsichtig geschätzt müssen wir davon ausgehen, dass heute in Hamburg mindestens 1.500 bis 2.000 Menschen obdachlos auf der Straße leben.

1) Unberücksichtigt bleiben hier die „nicht wohnberechtigten“ Zuwanderer in den Unterkünften von fördern&wohnen: 5181 Personen (Mai 2014).

DIE STADT STEHT VOR EINER RIESIGEN
WOHNUNGS- UND SOZIALPOLITISCHEN
HERAUSFORDERUNG

Insgesamt etwa 7.900 Menschen ohne Wohnung, die dringend eine Wohnung benötigen und überwiegend unter sehr schwierigen bis sozial zerstörerisch wirkenden Bedingungen leben müssen.

Die Lebenslage und die große Zahl der Wohnungslosen erklären jedoch nicht die Rückkehr der Wohnungsfrage auf die vorderen Ränge der politischen Agenda in Hamburg. Verantwortlich dafür war eher, dass sich die jahrelang andauernde sträfliche Vernachlässigung einer sozialen Wohnungspolitik mit dem einhergehenden Mangel an erschwinglichen Wohnungen bis weit in die Mittelschichten hinein schmerzlich bemerkbar machte.

Als Antwort auf die neue Wohnungsnot hat der Hamburger Senat vor allem das wohnungspolitische Ziel formuliert, jährlich 6.000 neue Wohnungen zu bauen, davon 2.000 Sozialwohnungen. Darüber hinaus unterstützt er die bundespolitischen Vorhaben zur Einführung einer Mietpreisbremse. Eine Dämpfung der Mietpreissteigerungen und der vermehrte Neubau von Wohnungen sind wichtige und notwendige, jedoch bei weitem unzureichende Schritte, um Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt sind, mit Wohnraum zu versorgen. Unzureichend sind sie vor allem aus drei Gründen: 

  • Erstens: Der starke Mangel an günstigen Wohnungen auf dem Hamburger Wohnungsmarkt stärkt die Marktmacht auf der Anbieterseite erheblich. Besonders betroffen hiervon sind Menschen, die zwingend auf preisgünstige Wohnungen angewiesen sind. Das Bemühen der Vermieter, beim Abschluss von Mietverträgen tatsächliche oder vermeintliche Risiken zu vermeiden, verbunden mit häufig gruppenbezogenen Vermutungen über die Vertragstreue und Anpassungsfähigkeit potentieller Mieter sowie subjektive Vorlieben bis hin zu rassistischen Stereotypen tragen dazu bei, dass eine ganze Reihe von Personengruppen auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden. Von dieser Diskriminierung und Ausgrenzung auf dem Wohnungsmarkt sind in ganz besonderem Maße wohnungslose Haushalte betroffen. 
  • Zweitens: Der Neubau von Wohnungen im mittleren und oberen Preissegment macht entgegen der immer wieder kolportierten „Sickertheorie“ kaum Wohnraum für arme Haushalte frei. Denn zu Zeiten eines angespannten Wohnungsmarktes steigen in der Regel die Mieten der frei werdenden Wohnungen stark an. Die durch Umzugsketten frei werdenden Wohnungen werden überwiegend von solventeren, viel Wohnraum konsumierenden und beliebteren Wohnungsuchenden aufgesogen. 
  • Drittens: Um das rapide Abschmelzen der Sozialwohnungsbestände auch nur zu stoppen, müsste das Sozialwohnungsneubauprogramm des Hamburger Senats verdoppelt werden – eine kaum realistische Perspektive. Darüber hinaus hat knapp die Hälfte der Hamburger Haushalte prinzipiell von seinem Einkommen her einen Anspruch auf eine Sozialwohnung – auch hier konkurrieren also Benachteiligte auf dem Wohnungsmarkt mit beliebteren Wohnungssuchenden und kommen deshalb bei der Wohnungsvergabe in der Regel nicht zum Zuge.

Zur Wohnungsversorgung benachteiligter Haushalte, insbesondere wohnungsloser Haushalte, muss also neben den Maßnahmen zur Begrenzung der Mietpreissteigerungen (im Bestand und bei Neuvermietungen) und neben dem Neubau von günstigen (Sozial-)Wohnungen vor allem die Zugänglichkeit der vorhandenen Wohnungsbestände für diesen Personenkreis verbessert werden. Das hierfür wichtigste wohnungspolitische Instrument Hamburgs ist das kommunale Wohnungsunternehmen, die SAGA GWG. Denn das Unternehmen ist das größte Wohnungsunternehmen der Stadt, und befindet sich im Eigentum der Stadt. Aufsichtsrats vorsitzende/r ist qua Amt der Senator für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien und Hansestadt Hamburg. Zunehmend handelt die SAGA GWG jedoch wie ein normaler Vermieter und entzieht sich ihrer sozialen Verpflichtung. Im Jahr 2010 hat sich die SAGA GWG in einem Vertrag mit der Stadt verpflichtet jährlich 3.000 Wohnungen an sozialwohnungsberechtigte Haushalte, davon 1.700 an vordringlich Wohnungssuchende zu vermieten. D. h. von den knapp 9.000 Neuvermietungen jährlich muss die SAGA GWG nur etwa ein Drittel an Sozialwohnungsberechtigte und 19% an vordringlich Wohnungssuchende vermieten. Dass ein sehr viel höherer Sozialmieteranteil möglich ist, zeigt die Tatsache, dass 1990 noch 77% des Wohnungsbestandes Sozialwohnungen waren und entsprechend vermietet werden mussten.

SAGA GWG IN DIE PFLICHT NEHMEN!

Das Diakonische Werk Hamburg fordert seit 2013 den Hamburger Bürgermeister auf, die SAGA GWG in die Pflicht zu nehmen und dafür zu sorgen, dass das Unternehmen jede zweite Neuvermietung, also etwa 4.500, an vordringlich Wohnungssuchende vergibt, darunter 2.000 an wohnungslose Haushalte. Neben einem politischen Auftrag könnte die Zielund Leistungsvereinbarung ein ergänzendes Instrument sein, um dies umzusetzen. Die jetzige Ziel- bzw. Leistungsvereinbarung, deren Erfüllung mit der Auszahlung von Boni an die SAGA GWG Vorstände in Höhe von bis zu 50.000 bzw. 80.000 Euro verbunden ist, bezieht sich auf das Jahresergebnis, Bauprogramme, Klimaziele, Unternehmenswertentwicklung und Neubau. Ziele explizit sozialer Wohnungspolitik sind hier nicht zu erkennen. Die Vermietung an benachteiligte und vor allem wohnungslose Haushalte sollte in den Kanon der Konzernziele und in die Zielvereinbarungen mit den Vorständen der SAGA GWG aufgenommen werden.

Auch die weiteren wohnungspolitischen Instrumente, über die Hamburg verfügt, sollten konsequent am Ziel der Versorgung benachteiligter Haushalte und am Ziel einer massiven Reduzierung von Wohnungslosigkeit ausgerichtet werden. Dies betrifft die Regelungen zur Beurteilung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft gem. § 22 SGB II und § 35 SGB XII für EmpfängerInnen von Grundsicherungsleistungen. Je nach Ausgestaltung können diese Regelungen zur Ausgrenzung beitragen oder Ausgrenzungsprozessen entgegenwirken und als Instrumente des Nachteilsausgleichs genutzt werden. Verbesserungen für wohnungslose Haushalte aus dem Jahr 2014 sind nicht weitreichend genug ausgefallen.

Auch die Liegenschaftspolitik ist ein wichtiges wohnungspolitisches Instrument. Sie sollte nicht an Erlösoptimierung, sondern an der Unterstützung des Vorhabens, günstigen Wohnraum für besonders bedürftige Zielgruppen bereitzustellen, ausgerichtet werden. Wohnungsmarktakteure, die für diesen Personenkreis Wohnraum schaffen, sollten bevorzugt und sehr günstig mit Grundstücken versorgt werden. Konsequent sollten an sozialen Zielen ausgerichtete Konzeptausschreibungen bei der Vergabe von Grundstücken die Entwicklung von sozialen Wohnungsbauprojekten stimulieren.

ZIELGRUPPENSPEZIFISCHE FÖRDERPROGRAMME
WERDEN VON DER WOHNUNGSWIRTSCHAFT
NICHT ABGENOMMEN

Das Förderprogramm zum Ankauf von Belegungsbindungen ist offenbar für die Wohnungswirtschaft noch wenig interessant und wird kaum in Anspruch genommen. Auch das Förderprogramm für „besondere Wohnformen“ fristet nur ein winziges Nischendasein.

Im Jahre 2005 haben sich SAGA GWG und andere Wohnungsbauunternehmen in einem Kooperationsvertrag mit der Stadt für verschiedene Gegenleistungen der Stadt vertraglich verpflichtet, jährlich insgesamt etwa 1.200 Wohnungen für wohnungslose Haushalte zur Verfügung zu stellen. Diese Verpflichtung ist seither von der Wohnungswirtschaft in keinem einzigen Jahr erfüllt worden. Insgesamt hinkt die Wohnungswirtschaft seit 2005 mit weit über 4.000 Wohnungen hinterher. Solche Verträge sollten, wie auch der Rechnungshof kritisch anmerkte, bei Nichterfüllung Sanktionen vorsehen, zumindest aber sollten die im Verzug stehenden Wohnungen auf die je aktuellen Vereinbarungen aufgeschlagen werden.

Zielzahlen und tatsächliche Förderungszusagen der IFB für einzelne Wohnungsbauprogramme 2013

Anspruch und Wirklichkeit bei der Wohnungsbauförderung klaffen weit auseinander. Die Förderprogramme der IFB, die für besondere Zielgruppen entwickelt wurden, werden bei weitem nicht ausgeschöpft. Besonders bitter: 2013 wurden keine einzige Wohnung in den Programmsegmenten Rollstuhlfahrer und besondere Wohnformen gefördert. Auch für die genossenschaftlichen Baugemeinschaften sieht es nicht besser aus. Ziel waren 100, gefördert wurden 13 Wohnungen.

Auch Informations- und Aufklärungsarbeit in Verbindung mit Verpflichtungserklärungen der Wohnungswirtschaft können ergänzend zur Zurückdrängung von Ausgrenzung und Diskriminierung beitragen. Dazu zählen die Schulung und Sensibilisierung von Führungskräften und Gatekeepern im Vermietungsgeschäft zur interkulturellen Bildung und interkulturellen Öffnung oder zur Lebenslage und zu Hilfemöglichkeiten für bestimmte Gruppen, etwa psychisch erkrankte Menschen.

DER „WOHNUNGSMARKT“ REGELT
DIE PROBLEME DER WOHNRAUMVERSORGUNG
DEFINITIV NICHT!

Die nicht nur in Hamburg sehr wirksame Leitidee der „sozialen Mischung“ von Stadtteilen wird leider nicht so verstanden, dass in gut und sehr gut gestellten Quartieren überdurchschnittlich viel Wohnraum für arme Menschen gebaut wird. Die Leitidee der sozialen Mischung setzt bedauerlicherweise ganz anders, nämlich in den armen Quartieren an. Sie möchte Wohnviertel und Stadtteile aufwerten und für den Zuzug von besser gestellten Haushalten attraktiv machen. Sie erschwert so den Zu- und Umzug von armen und benachteiligten Haushalten. Unter der Bedingung eines insgesamt angespannten Wohnungsmarktes in Hamburg ist die Folge, dass der Anteil des Wohnungsmarktes sinkt, der armen und benachteiligten Menschen offen steht. Die Mieten in diesen Quartieren steigen. Insbesondere wohnungslosen Haushalten wird so der Zugang zu Segmenten des Wohnungsmarktes abgeschnitten, zu dem sie ohne diese Strategien leichteren Zugang hätten.

Letztlich wird eine stabile und deutliche Verbesserung der Wohnungsversorgung benachteiligter und diskriminierter Gruppen und ein nachhaltiger Abbau der Wohnungslosigkeit nur erreichbar sein, wenn es gelingt, größere Wohnungsbestände vom Marktsystem abzukoppeln und in einem bedarfsorientierten System über unterschiedliche Instrumente Bedürftige direkt, ohne Umweg über den Markt, mit Wohnraum versorgen.

Trotz guter Präventionsarbeit können Trennung von Partnerschaften, biographische Krisen- und Umbruchsituationen, Migration, eine konflikthafte und abrupte Lösung aus dem Elternhaus oder psychische Erkrankungen meist in Verbindung mit Armut und schwachen sozialen Netzwerken einzelne Menschen in die Wohnungslosigkeit führen. So entstandene Wohnungslosigkeit dauert aber nur dann länger an, wenn in einer Stadt aufgrund unzureichender sozialer Wohnungspolitik keine preisgünstigen Wohnungen erhältlich sind, wenn anerkannt vordringlich Wohnungssuchende nicht zügig von der Stadt mit einer entsprechend gebundenen Wohnung versorgt werden, wenn soziale Dienste, die in Krisensituationen Wohnungsnotfälle unterstützen sollen, unzureichend ausgestattet sind oder schlecht funktionieren. Die wohnungspolitischen, sozialpolitischen und die Instrumente der Sozialarbeit zur Vermeidung und zum Abbau von Wohnungslosigkeit sind bekannt und haben vielfach ihre Wirksamkeit bewiesen. Ein Versagen der Politik ist es, wenn diese nicht konsequent genutzt und finanziert werden. 

Stephan Nagel ist Mitarbeiter des Diakonischen Werks Hamburg, Geschäftsführer der evangelischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (EWA) und der evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Suchtkrankenhilfe (EAS).

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 20(2014), Hamburg