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Artikel Stadtentwicklung

Die Wiederentdeckung der neuen Träger

*** von Klaus Selle und Heidi Sutter-Schurr ***

Gemeinschaft hat Konjunktur. Die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion ist geprägt durch hohe Ansprüche an die Leistungsfähigkeit von Gruppen, Initiativen, Nachbarschaften. Als Kernelemente einer „Bürgergesellschaft“ sollen sie deren Möglichkeiten zur Entfaltung bringen.

Diese Haltung erstreckt sich auch auf das Wohnen. Über lange Zeit waren es die großen staatsnahen Wohnungsunternehmen und später die privaten Developer, die die Dinge richten sollten – dennoch konnte man seit den späten 70er und frühen 80er Jahren zwischen Staat und Markt neue Akteure erspähen: die Baugemeinschaften, Wohngruppen, selbstgewählte Nachbarschaften und viele andere.

Nachbarschaft in der Geschichte des Wohnens

Diese Gemeinschaften sind durchaus verschieden – hinsichtlich ihrer Rechts- und Finanzierungsformen, der jeweiligen Anteile an Fremd- und Eigenleistungen und wohl auch in ihrem Verständnis von sozialer Distanz und Nähe. Aber gemeinsam ist ihnen, dass (Um-)Bauen und Wohnen gemeinschaftlich angegangen werden: die „selbstnutzende Gemeinschaft als Bauherr“, wie Klaus Novy das genannt hat. Allerdings haben wir es hier nicht mit einem neuen Phänomen zu tun: Das Bemühen um gemeinschaftliche Selbstorganisation und nachbarschaftlichen Zusammenhalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Wohnens in den Städten. Die Genossenschaftsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die spezifischen sozialen Qualitäten, die sich in den Arbeitersiedlungen entwickeln konnten, die neue Gründungswelle genossenschaftlicher Projekte in den 70er und 80er Jahre und die Wohngruppen, die seither entstanden – sie alle zeigen, dass es sich bei der aktuellen Hinwendung zu gemeinschaftlichem Bauen und Wohnen nicht um eine Neu- sondern um eine Wiederentdeckung handelt.

Gemeinschaftliches Wohnen als kommunale Aufgabe

Obschon manche dieser Erscheinungsformen zu ihrer Zeit gerne als sektiererische Paradiesvögel belächelt wurden, ist gemeinschaftliches Bauen und Wohnen immer noch und wieder aktuell. Und dies nicht etwa nur bei potentiellen Bewohnern und Bewohnerinnen, nein, selbst einige Kommunen und sogar Bundesländer fördern solche Projekte inzwischen direkt oder indirekt (beispielsweise Hamburg, Niedersachsen, Hannover, Dresden…) Warum? Die Antwort auf diese Frage verlangt nach längerem Atem. Denn es gibt viele und gute Gründe – dazu reicht aber hier der Raum nicht. Daher nur wenige Schlaglichter:

  • Qualität: Wer selbst nutzt, hat die besten Vorstellungen von dem, was er braucht. Gemeinschaftlich können so Siedlungsqualitäten (etwa unter sozialen und ökologischen Aspekten) realisiert werden, für die die anonyme Wohnungsproduktion keinen Markt sieht.
  • Vielfalt: In der Addition vieler Projekte unterschiedlicher Baugemeinschaften entstehen – anders als bei den großen Einheiten traditioneller Bauträger – bunte, lebendige Stadtteile: Beispiele in Tübingen und Freiburg zeigen das.
  • Kosten: Gemeinschaftliche Produktion kann Kosten reduzieren und damit z.B. die Schwelle zur Eigentumsbildung senken. Dies ist vor allem in den Neuen Bundesländern ein Förderungsgrund, um nicht allein den westdeutschen Investoren das (Sanierungs-) Feld zu überlassen.
  • Stabilität: In einer zunehmend auf Flexibilisierung und Beschleunigung setzenden Welt vermitteln die selbstgewählten Nachbarschaften soziale Stabilität – und können so auch Halt geben in biografisch schwierigen Situationen.
  • Integration: Viele Projekte entstehen ausdrücklich auch, um durch nachbarschaftliche Hilfe etwa alleinerziehende Mütter zu entlasten, Behinderte zu integrieren oder älteren Menschen Mehrgenerationen- Wohnen zu ermöglichen und damit einen entmündigenden Heimaufenthalt so weit wie möglich zu vermeiden.

Herausforderung an Planer und Politik

Das alles klingt so überzeugend, dass man sich fragen mag, wieso nicht nur in solchen Formen gebaut und gewohnt wird. Auch hier wäre längeres Nachdenken notwendig. Hier nur zwei Aspekte von vielen:

  • Von der staatlichen Wohnungsbauförderung bis zu den Bausparkassen, von den Kinderlesebüchern bis zur Margarinewerbung: überall werden andere Wohnleitbilder propagiert, gefördert und realisiert. Noch immer können sich die meisten Menschen gemeinschaftliches Wohnen schlicht nicht vorstellen.
  • Gemeinschaftliches Bauen bedarf einer besonderen Form der Unterstützung, Förderung und Beratung. Darauf sind Verwaltungen und Dienstleister (einschließlich der Architekten) überwiegend (noch) nicht eingestellt.

Es ändert sich einiges. Und manches muss sich noch ändern. Aber es zeichnet sich ab, dass gemeinschaftliches Bauen und Wohnen heute mehr ist als das Sonderanliegen einiger Gruppen. Mit der Besinnung auf die Potenziale der Zivilgesellschaft werden hier ganz neue Dimensionen sichtbar.

Heidi Sutter-Schurr ist Mitarbeiterin des Instituts für Landschaftsarchitektur der TU-Dresden.

Klaus Selle ist Professor am Institut für Freiraumentwicklung und Planungsbezogene Soziologie der Universität Hannover.

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 7(2001), Hamburg