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Artikel Stadtentwicklung Wohnprojekte national/international

Tübingen: Neues Quartier gemeinsam planen

*** von Andreas Feldtkeller ***

Hamburg gilt als Hochburg von Projekten, in denen Menschen gemeinsam planen und bauen, um später gut nachbarschaftlich miteinander zu wohnen. Über die ganze Stadt verstreut existieren viele vereinzelte Wohnprojekte. Anders in Tübingen, wo seit Anfang der 90er Jahre das Gebiet einer ehemaligen Kasernenanlage für mehrere tausend Menschen zusammen mit den zukünftigen NutzerInnen geplant wird. Ein auf Hamburg übertragbares Modell?

Gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Wohnen ist bei dem Konversionsprojekt Stuttgarter Straße/ Französisches Viertel in Tübingen eher ein planerisches Werkzeug als eigentliches Ziel, ist doch der Grundgedanke bei der Planung auf den bis 1991/92 vom französischen Militär genutzten Arealen die Wiedereinbindung des Wohnens in einen städtischen Zusammenhang, der seine Qualität vor allem aus funktionaler Heterogenität bezieht.

Kasernengelände wird frei

Städtebau und Stadtentwicklungspolitik hängen heute – trotz gravierender gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche des vergangenen Jahrzehnts – unverändert Vorstellungen von einer lebenswerten Stadt nach, die aus der Epoche der vollbeschäftigten Industriegesellschaft stammen und sich durch konsequente Zonierung (Trennen von Wohnen und Arbeiten), durch ein Ignorieren von Entfernungen und das Desinteresse an mittelständischem Wirtschaften auszeichnen. Dabei wird auch die Aufgabe der Stadt als unverzichtbares Medium interkultureller Integration systematisch unterschlagen. Wer planerisch aus diesem Regelkreis ausbricht, bekommt das ausdrückliche Desinteresse von Bauträgern,Wirtschaftsförderern, Kammern, Banken und deren politischen Unterstützern zu spüren.

Nutzer selber planen lassen

Das Tübinger Südstadtprojekt sieht vor, auf einer Fläche von etwa 60 Hektar Wohnflächen für 6500 Menschen und 2500 Arbeitsplätze unterzubringen und zwar durchgehend in relativ dicht bebauten Mischgebieten. Der vom Gemeinderat dazu beschlossene Grundsatz, die neugeordneten und erschlossenen Baugrundstücke und Altbauten mit Vorrang direkt an künftige (Wohn-, Gewerbeund Kultur-)Nutzer zu veräußern, entspringt weniger der Begeisterung für selbstorganisiertes Bauen und Wohnen, als der Einsicht in die Tatsache, dass lebendige, vielfältige und integrierende Quartiersstrukturen unter gegenwärtigen Umständen nur hergestellt werden können, indem man – statt auf anonyme Entwicklungsgesellschaften zu bauen – möglichst weitgehend die künftigen Nutzer selbst machen lässt.

Das dazu erforderliche Geschäft auf Gegenseitigkeit setzt eine möglichst frühzeitige Zieldefinition für die Planung voraus. Für alle Beteiligten muss klar sein,worum es sich handelt und worum nicht: Bei dem Tübinger Vorhaben zum Beispiel eben nicht um ruhiges Wohnen im Grünen mit davon unabhängigem Gewerbe- oder Büropark, sondern um ein lebendiges, also umtriebiges und deshalb auch nicht störungsfreies Viertel.

Lebendiges und gemischtes Viertel als Ziel

Wie sieht das Geschäft auf Gegenseitigkeit konkret aus?

■ Die Stadt bietet Grundstücke an zu einem vom Gutachterausschuss ermittelten (nicht verhandelbaren und auch nicht einem Bewerberwettbewerb unterliegendem) Verkehrswert und mit individuell festzulegendem Zuschnitt – bebaubar nach relativ einfachen Regeln des künftigen Bebauungsplans (geschlossene Bauweise, festgelegte Traufhöhe, die vier bis sechs Vollgeschosse ergibt, ein das Dach begrenzender Umriss, eine Grundflächenzahl von 0,6 bis 0,8). Dieses Angebot erfolgt zunächst als formlose Option. Die Bewerber haben dadurch die Möglichkeit, bis zur Rechtskraft des Bebauungsplans ihre Planungsinhalte und Finanzierungsmöglichkeiten zu klären und dann zu kaufen oder auch die Option zurückzugeben.

■ Im Gegenzug verpflichten sich die Kaufinteressenten, das städtebauliche Mischkonzept und die vorgesehene Bebauungsdichte zu akzeptieren, im Erdgeschoss des entstehenden Gebäudes Gewerbe unterzubringen, auf Stellplätze auf dem eigenen Grundstück zu verzichten (Stellplätze werden in mechanisierten Parkierungsanlagen am Rande des Viertels hergestellt) und die Baumaßnahme nach Annahme der Option auch zügig zu verwirklichen.

Ohne kommerzielle Bauträger

Bis 1999 wurden auf diese Weise im Lorettoareal und im Französischen Viertel 62 Projekte in unterschiedlichster Größenordnung (50% mit 1–6 Wohneinheiten, 50% mit 7 und mehr Wohneinheiten) und mit insgesamt 379 Wohneinheiten und zusätzlichen Flächen für Gewerbe und kulturelle Nutzungen konzipiert und realisiert. Die Herstellungskosten liegen in der Regel wesentlich unter den Kosten marktüblicher Eigentumseinheiten. Dies ist nicht die Folge städtischer Subventionen. Die in der städtischen Planung enthaltene Dichte als Voraussetzung für Vielfalt und kurze Wege führt außerdem zu einem Grundstückskostenanteil, der bei nur 300 bis 400 DM je Quadratmeter Wohn- oder Gewerbefläche liegt.

Bemerkenswert ist, dass neuerdings bei der Vergabe weiterer Baugrundstücke in einem dritten und vierten Bauabschnitt die Zahl der NutzerInnen als Bewerber noch steigt. Offensichtlich führt die Möglichkeit, die weitgehend fertigen Quartiere und das entstehende Quartiersleben vor Ort zu besichtigen, zu einem wachsenden Interesse an solchen neuen Stadtquartieren.

Andreas Feldtkeller war Stadtplaner in Tübingen und Initiator des Projektes. 

Chronik zur Entwicklung der Tübinger Südstadt

■ 1990 Bekanntwerden des Abzugs der französischen Garnison, erste Überlegungen zum Umbau der Südstadt.

■ 1991 Die Stadt erklärt ihre Absicht zur Festlegung eines Städtebaulichen Entwicklungsbereichs, das Stadtsanierungsamt wird mit der Maßnahmeplanung beauftragt. Im Juni verlässt der größte Teil der französischen Truppen Tübingen, die Stadt übernimmt sukzessive die Militärareale. Im Sommer erfolgt der Startschuss zum städtebaulichen Wettbewerb, begleitet von einem Kolloquium und Diskussionsveranstaltungen zur Zukunft der Südstadt. Stadt und Studentenwerk beginnen mit dem Umbau von Militärgebäuden. Als Zwischennutzer bis zur Privatisierung der Flächen siedeln sich die ersten Gewerbebetriebe an.

■ 1992 Den Wettbewerb gewinnen fünf Studenten, die später das Stuttgarter Büro LEHEN 3 gründen. Im Herbst beschließt der Gemeinderat die Entwicklungssatzung, die im Dezember durch die Genehmigung des Regierungspräsidiums rechtskräftig wird. Der Entwurf des Rahmenplans wird in der Öffentlichkeit und in den Gremien vorgestellt.

■ 1993 Der Gemeinderat bildet einen Südstadt- Ausschuss, die Kaufverhandlungen mit dem Bund konkretisieren sich. Im Dezember stimmt der Gemeinderat dem Entwurf des Rahmenplans zu.

■ 1994 Die Stadt erwirbt vom Bund das Areal, erste Verhandlungen mit Grundstücksinteressenten beginnen, parallel entsteht das Konzept für den Bebauungsplan.

■ 1995 Erste Optionen für den Gebäude- und Grundstücksverkauf werden vergeben, Konzepte für die Bebauung des Loretto-Areals und die Stellflächen in Form einer automatischen Parkierungsanlage entstehen.

■ 1996 Das Stadtsanierungsamt und die Landesentwicklungsgesellschaft bilden eine Projektgruppe, der Verkauf der bebauten Grundstücke beginnt. Zu diesem Zeitpunkt gibt es im Entwicklungsbereich bereits 350 Arbeitsplätze und Wohnraum für 1300 Bewohner. Im Juni wird der erste private Kaufvertrag über ein Neubau-Grundstück abgeschlossen, die ersten Baugruben ausgehoben. Die zukünftigen Bewohner gründen im Dezember die Parkierungsgesellschaft Französische Allee. Die Bebauung soll in Abschnitten erfolgen.

■ 1997 Auch im Loretto-Areal beginnt der Neubau, die Parkierungsgesellschaft Lorettoplatz wird gegründet. Für nahezu alle Grundstücke der ersten beiden Planungsabschnitte liegen Kaufverträge oder Optionen vor. Erste Richtfeste.

■ 1998 Der Entwurf für den Bebauungsplan Hindenburg-Ost entsteht, der für Loretto Ost wird beschlossen. Ein privater Investor übernimmt die Herstellung der automatischen Quartiersgaragen. Die Bürgerbeteiligung zur Gestaltung der öffentlichen Freiräume für das Loretto-Areal beginnt.

■ 1999 Zwischenbilanz: ca. 3000 Bewohner im Entwicklungsbereich und im Loretto-Areal, ca. 600 Beschäftigte in 100 Betrieben, Einrichtungen und Geschäften. Die Grundstücksoptionen für den 3. Bauabschnitt werden an ca. 20 private Baugemeinschaften vergeben.

■ 2000 Die erste automatische Parkierungsanlage geht im Loretto-Areal in Betrieb. Start des vierten Bauabschnittes, „Loretto-West“. Es gibt über 120 Bewerbungen von privaten Baugruppen und einzelnen Interessenten. Auch hier erhalten bis zum Herbst ca. 20 überwiegend private Baugruppen Grundstücksoptionen.

Mit geringen Veränderungen entnommen: Andreas Pätz, Cord Soehlke: Lässt sich Stadtleben planen? aus: Feldtkeller, A. (Hrsg.), Städtebau: Vielfalt und Integration, Neue Konzente für den Umgang mit Stadtbrachen, München, 2001 

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 7(2001), Hamburg