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Architektur/Planungskultur Artikel

Erdgeschosszonen im Wohnungsbau

Wohnen im EG ist Glückssache

*** von Volker Rosche ***

In den letzten Jahren des boomenden Wohnungsbaus scheinen mir die Erdgeschosszonen vernachlässigt worden zu sein. Dabei bergen sie doch so viele Potenziale für Menschen, Gebäude und das Quartier.

In den Neubauquartieren wurden die gewerblich/öffentliche Nutzung von Erdgeschosszonen zuletzt besonders als ‚Urbanitäts‘-Gelenk bemüht. Das kann man z. B. in der Hamburger HafenCity begutachten. Dafür gerühmt wird auch die „Seestadt“ Wien-Aspern. Das soll jedoch nicht mein Thema sein, sondern hier möchte ich mich nur jenen Erdgeschosszonen zuwenden, die sich in Quartieren mit überwiegender Wohnbebauung befinden.

NÄHE, KONTROLLE, STRESS

Ein ganz gewichtiger Faktor für Erdgeschosszonen im Wohnbereich ist, dass durch sie der innere Wohnraum potenziell nach außen erweitert werden kann. In wie weit das möglich ist, hängt allerdings von unterschiedlichen Voraussetzungen und Einflüssen ab. Der bauliche Bereich, die bauliche Dichte, der umgebende Außenraum und das soziale Gefüge der Bewohner spielen zusammen oder auch gegeneinander.

Dabei muss man davon ausgehen, dass Menschen ein bestimmtes Abstands- oder auch Näheverhalten zugeschrieben werden kann. Dieses variiert mit dem Kulturkreis aus dem sie kommen, auch mit Bekanntschaften und Freundschaften im näheren Wohnumfeld.

Es gilt aber grundsätzlich für das Wohnverhalten, dass es in verschiedene Distanzen eingeteilt werden kann: mehr privates, öffentlicheres und auch ein dazwischen angesiedeltes halböffentliches Verhalten. Dabei empfinden Menschen erhöhten Stress, wenn jemand zur Unzeit in ihre nähere Umgebung eindringt oder Einblick nehmen kann. Das nennt man auch soziale Kontrolle. Diese verursacht nur bei Freiwilligkeit keinen Stress. Unfreiwillige soziale Kontrolle kann Resultate von Unwohlsein bis hin zu Auseinandersetzungen im Wohnbereich, Umfeld und auch außerhalb produzieren.

Die Berücksichtigung einfacher Regeln bei der Planung kann von vornherein Erleichterung schaffen.

Grenzen zwischen den Bereichen privat, halböffentlich und öffentlich müssen deshalb deutlich baulich-räumlich ausgeführt werden: Die direkte Einsehbarkeit vom öffentlichen Bereich aus in den privaten darf nicht gegeben sein. Häufig wurde in letzter Zeit jedoch die Erdgeschossdecke auf Geländeniveau, die Brüstungshöhe auf ca. 1,10 m gelegt und die Zugangswege eng daran entlang oder gar Eingangsbereiche darauf zu geführt.

Zur Gegenwehr verwandten die Bewohner*innen dann oft Sichtblenden aus Faltrollos von unten nach oben gezogen, so dass die Einsehbarkeit über die Augenhöhe verlegt wurde. Andere zogen dauerhaft die Vorhänge zu. Das hat natürlich Einschränkungen der Wohnungsqualität zur Folge. Also muss man Abstand zum privaten Bereich schaffen, z. B. mit Hilfe einer Abstandszone, oder der Höherlegung des Erdgeschosses.

Der halböffentliche Bereich kann durch eindeutige Vorder- und Rückseiten von Wohngebäuden definiert werden. Vorder- und Rückseiten einander gegenüber zustellen ist dabei von Nachteil und schränkt auch den halböffentlichen Außenbereich ein. Wenn das Gegenüber von Vorder- und Rückseiten nicht zu vermeiden ist, dann sind größere Abstände von Erschließungswegen zur Rückseite und dichte Abpflanzungen hilfreich und vonnöten.

Diese Grundlagen sind eigentlich lange bekannt, jedoch wohl auch Opfer ökonomischen Kalküls oder vergessen worden. Denken wir einfach vor dem Bauen daran, dann können alle friedlicher und zufriedener miteinander leben. 

Grafiken: Marc Vester, Sabine Kraft, Elke Metzner, Raum für soziales Leben. – Karlsruhe, 1982

Volker Roscher hat Architektur und Soziologie studiert und sich in seinem Berufsleben schwerpunktmäßig mit Wohnungsbau und wohnsoziologischen Themen befasst und hierzu einschlägig publiziert.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 23(2018), Hamburg