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Artikel Stadtentwicklung Wohnungspolitik

Gemeinschaftliches Wohnen

Innovationspotenzial und Hindernislauf

*** von Ingrid Breckner und Klaus Joachim Reinig ***

Gemeinschaftliche Wohnformen vereinen bedürfnisgerechtes Wohnen, Ressourcen schonendes Bauen, Beteiligung an Planung und Errichtung der Bauvorhaben und gemeinsame Gestaltung des Wohnens. Seit einigen Jahren gehen von diesen eher kleinen Akteuren innovative Impulse für die Stadtentwicklung aus.

Wohnungsnachfrage im Wandel und zivilgesellschaftliche Wohnungsangebote

Seit den 1990er Jahren zeichnet sich im Bereich des Wohnens eine immer deutlicher werdende Differenzierung der Nachfrage ab: Wohnungssuchende haben unterschiedlich viel Geld, mehr oder weniger sichere Einkommensverhältnisse, besondere Bedürfnisse und Praktiken im Wohnalltag und leben in mehr oder weniger dynamischen Haushaltskonstellationen. Der entstandenen Vielfalt von Milieus, Haushalts- und Alterskonstellationen wird das weitgehend nach dem Modell der industriellen Massenproduktion standardisierte Wohnungsangebot der Nachkriegszeit kaum noch gerecht. Die beliebten nutzungsneutralen Gründerzeitwohnungen sind – je nach Umfang der Kriegszerstörungen – in ihrer Zahl begrenzt und so vielfach wegen hoher Nachfrage überteuert und/oder wegen sparsamer Instandhaltung und vernachlässigter Modernisierung in einem prekären Zustand. Die Neubauzahlen bezahlbarer Sozialwohnungen oder genossenschaftlicher Wohnungen tendieren seit den 1980er Jahren fast überall nach unten und der Bestand an Sozialwohnungen schrumpft kontinuierlich aufgrund des hohen Anteils auslaufender Belegungsbindungen.

Neue ökologische Anforderungen an das Wohnen erzwingen längerfristig einen innovativen Umgang mit Materialien, Flächen, Techniken, Energieressourcen oder Lärm- und Staubbelastungen auf einem auch bei mittleren und niedrigen Einkommen bezahlbaren Niveau. Nicht zuletzt verändert und dynamisiert die steigende – freiwillige oder erzwungene – Mobilität vieler Menschen sowie der vielfach diskutierte demographische Wandel das Geschehen auf städtischen wie ländlichen Wohnungsmärkten: Wohnungen stehen leer oder verfallen in Lebensräumen, in denen Menschen keine existenzsichernde Arbeit finden oder mit niedrigen Einkommen ihren Ruhestand gestalten müssen und sind eine teure Mangelware allerorts, wo Perspektiven der Einkommenssicherung bestehen oder erhofft werden. Vor diesem Hintergrund ist eine räumlich differenzierte Betrachtung von Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt heute wie in Zukunft unvermeidlich.

Die skizzierten wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Differenzierungen in der Wohnungsnachfrage erfordern ein entsprechendes Umdenken in der Planung, Herstellung und Gestaltung des Wohnungsangebotes. Staatliche und marktwirtschaftliche Akteure im Neubau und in der Bestandspflege von Wohnraum nehmen diese neuen Herausforderungen nur zögernd und selektiv zur Kenntnis. Dadurch hat sich in den vergangenen 20 Jahren vor allem in deutschen Großstädten ein buntes Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure entwickelt, die ihre Versorgung mit Wohnraum mit gestalten wollen.

Neue Akteure im Wohnungsmarkt

Es reicht von Wohn-, Haus- und Baugemeinschaften, über Projekte für alte Menschen und neue Genossenschaftstypen bis hin zu ökologischen Pionieren in unterschiedlichen Bereichen des Wohnens. Das wachsende Interesse unterschiedlicher Menschen an verschiedenen Typen von Wohnprojekte-Börsen in Nord-, Süd- und Westdeutschland sowie das breiter werdende Spektrum beratender Fachleute und Institutionen veranschaulichen diese Entwicklung und dokumentieren die Bedarfe von Nutzern auf dem Wohnungsmarkt.

In Baugemeinschaften treten die künftigen Nutzer als direkte Auftraggeber und Bauherren auf. Sie formulieren ihre Wünsche, ihr Bild vom Wohnen, ihr Bild von Privatheit und Gemeinschaft, ihr Bild von Gesellschaft und suchen sich Partner, die ihnen helfen, diese jeweils spezifischen Vorstellungen umzusetzen. Unabhängig von Juroren und Architektenwettbewerben, die die Bilder der Publikationen internationaler Architekturästhetik reproduzieren, sollen sich in den modernisierten oder neu erbauten Wohnräumen ihre jeweils individuellen Träume von gemeinschaftlichem Wohnen materialisieren und ästhetisch repräsentieren. Solche Wohnträume erweisen sich selbst innerhalb einer kleineren Gemeinschaft keineswegs als homogen. Auch in diesen kleinen sozialen Einheiten ist die manchmal mühsame Aushandlung eines Konsenses zwischen dem Erwünschten und dem von allen Beteiligten wirtschaftlich Machbaren erforderlich. Dabei können mit Baugemeinschaften erfahrene Architekten und Baubetreuer helfen, wenn sie die jeweiligen Vorstellungen der Beteiligten verstehen und in realisierbare Lösungen übersetzen können. Das Spektrum solcher Fachleute blieb in der Vergangenheit jedoch begrenzt, da diese notwendige Kommunikationsarbeit in den geltenden Vergütungregularien nicht berücksichtigt ist und deshalb viel ehrenamtliches ideelles Engagement erfordert.

Baugemeinschaften übernehmen auch Verantwortung für ihre Nachbarschaft und das Quartier. Sie integrieren sehr häufig freiwillig Haushalte mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen aufder Basis von Freundschaftsbeziehungen oder Bekanntschaften. Dadurch vermindern sie eine Segregation entsprechnder Menschen in Wohnungsbeständen mit erforderlicher Berechtigung. Die ablaufenden Gruppenprozesse befähigen außerdem zu sozialer und politischer Interaktion und beleben somit Nachbarschaften und Quartiere.

Wohnprojekte als innovative Impulse in der Stadtentwicklung

Bürger, die als Einzelne oder in Gruppen als Bauherren aufteten, übernehmen volle wirtschaftliche, soziale und politische Verantwortung für ein Teilsegment des Wohnungsmarktes und für den Alltag in Wohnhäusern sowie in deren Umfeld. Da die wirtschafliche Situation der Beteiligten nicht von vornherein die Verwirklichung aller Wünsche ermöglicht, erfolgt eine differenzierte Abwägung zwischen Qualitäten und Kosten des Wohnens. Im Ergebnis tragen Baugemeinschaften zur Herstellung oder zum Erhalt qualitativ hochwertiger und gleichzeitig bezahlbarer Wohnverhältnisse bei. Ihre Kleinteiligkeit ermöglicht eine vielfältige soziale und kulturelle Nutzungsmischung. Das Engagement für das Wohnen bleibt zudem aufgrund der vorhergehenden Planungsprozesse auch nach dem Bezug von Wohnungen erhalten: Bürger als Bauherren engagieren sich mehr als Investoren, Genossenschaften oder Bauträger für eine angemessene infrastrukturelle Austattung der Quartiere. Sie beteiligen sich – wie im neuen Hamburger Stadtteil HafenCity – an der Verwirklichung eines Spielplatzes, organisieren Flohmärkte, sind zentrale Träger der Kommunikation in der Nachbarschaft und wirken an kulturellen Aktivitäten im Stadtteil mit. Somit leisten sie auf ehrenamtlicher Basis in bedarfsgerechter Ausführung und zum richtigen Zeitpunkt das, was in Fällen der Vernachlässigung nachbarschaftlicher und quartierlicher Belange in Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft für teures Geld und oftmals auch gegen frustrationsbedingt entstandene Skepsis mühsam mit unterschiedlichen Programmen zur sozialen Stadtteilentwicklung nachgebessert werden muss.

Baugemeinschaften bei traditionellen Genossenschaften erwiesen sich in der Vergangenheit häufiger als fragwürdiger Kompromiss. Sie scheitern leicht an der Halbherzigkeit der Verwirklichung und lösen damit die Wunschvorstellung selbstbestimmten Wohnens nur begrenzt ein. Traditionelle Genossenschaften, die für Baugemeinschaften bauen, erhoffen sich von ihnen ein Reform- und Innovationspotential, sei es in der Mitgliederverwaltung, sei es bei der Verwirklichung ökologischer Standards. Diese Ansätze werden jedoch erst tragfähig, wenn Baugemeinschaften seitens traditioneller Genossenschaften nicht nur zweckgebunden instrumentalisiert, sondern als Testläufe für die Weiterentwicklung zukunftsfähiger Genossenschaftsgedanken und somit als Impuls für eine eigene Veränderung ernst genommen werden.

Die politische Unterstützung von Baugemeinschaften in der Form ihrer kontingentierten Berücksichtigung bei der Vergabe städtischer Grundstücke kann sich bei existierendem Grundstückmangel ebenfalls als instrumentalisierbar herausstellen. Denn unter der Bedingung eines erleichterten Zugangs zu innerstädtischen Grundstücken über die Quotierung „Baugemeinschaft“ wird dieses Modell auch für solche Akteure auf dem Wohnungsmarkt interessant, die mit gemeinschaftlichem Wohnen im zivilgesellschaftlichen Sinne weder Erfahrung noch eine konsequente Umsetzungsbereitschaft mitbringen. Welche Gruppierungen unter solchen politischen Rahmenbedingungen tatsächlich welchen Zugang zu städtischen Grundstücken bekommen, bleibt folglich präzise zu beobachten und kritisch zu diskutieren.

Gemeinschaftliches Wohnen – mehr gemeinschaftlich oder mehr wohnen?

Gemeinschaftliches Wohnen entsteht aus dem Wunsch nach sozialer und emotionaler Sicherheit in selbst bestimmten Nachbarschaften, insbesondere dort, wo Vereinzelung und soziale Isolation drohen. Neben diesen nachbarschaftlichen Belangen formulieren Baugemeinschaften weiterführende Ansprüche, die nicht immer einzulösen sind. Der Drang nach „Freiheit“ und Individualisierung bildet den natürlichen Gegenpol zum Leben in der („paradiesischen“) Gemeinschaft. Hier sammeln Baugemeinschaften eigene Erfahrungen und müssen ihren spezifischen Weg des Zusammenlebens finden. Nicht zuletzt ist es eine gute Richtschnur, dass Projekte oft um so besser laufen, je weniger sie mit Ansprüchen überlastet sind. Das Austarieren zwischen Gemeinschaft und Individuum ist dabei nach Lebensabschnitten immer wieder zu leisten. Aber es ist ja gerade ein Vor- teil der Baugemeinschaften, dass genau dies geleistet werden und sich auch temporär abwechseln kann.

Daneben stehen Baugemeinschaften jedoch auch für den „Dritten Weg“ zwischen Miete und Eigentum – und auf diesem Gebiet entwickeln sie eine ökonomische und wohnungspolitische Bedeutung. Als Selbstnutzer verringern sie die Wohnkosten, da kein Investor daran verdienen muss und sichern nachhaltig den Wohnungsbestand. Jede Wachsende Stadt ist auf preisgünstigen Wohnraum angewiesen – die Zuwanderer sind überwiegend junge Haushalte, Auszubildende, Studenten und in den letzten Jahren auch zunehmend die Empty-nester, die im Dritten Lebensabschnitt aus der Vorstadt in das Stadtleben zurückkehren.

Allein unter diesem Gesichtspunkten ist Hamburg gut beraten, Baugemeinschaften als aktives Element der Stadtentwicklung zu unterstützen. Baugemeinschaften können langfristig für eine „Stadt der Bürger“ so wichtig werden wie einstmals der gemeinnützige Wohnungsbau.

Ingrid Breckner ist Stadtsoziologin und Professorin an der HafenCity Universität Hamburg. Joachim Reinig ist Architekt und engagiert sich seit vielen Jahren für gemeinschaftliche Wohnformen. Beide sind Mitglieder des Beirats der FreiHaus.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 16(2009), Hamburg