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Artikel Wohnprojekte Hamburg

Autofrei – nicht autoarm

10 Jahre Autofreies Wohnen Saarlandstraße

*** von Rainer Licht ***

Das autofreie Wohnen an der Saarlandstraße in Hamburg-Barmbek feiert in diesem Jahr sein 10-jähriges Jubiläum. Es ist das erste Projekt, das konsequent aufzeigt, wie eine andere Art von Mobilität in der Großstadt funktionieren kann. Ein Erfahrungsbericht.

Wir haben tatsächlich kein Auto – und wir fahren gern Auto. Mit diesem scheinbaren Widerspruch eröffne ich gern die Vorträge und Führungen in unserem Wohnprojekt. Das erste muss ich immer wieder betonen, denn der Begriff „Autofreies Wohnen“ ist nicht geschützt und viele Projekte, die sich so nennen, verbannen zwar das Auto aus der unmittelbaren Umgebung der Wohnung, nutzen es aber weiterhin, und sind sozusagen nur „optisch autofrei“. Wir jedoch besitzen überhaupt keine Kfz. Das ist auch nach 10 Jahren kein Problem oder gar ein Verzicht. Wir hier in Barmbek vermissen keinerlei Annehmlichkeiten in der Mobilität. Der Nahverkehr mit U-Bahn und Bussen ist sehr gut erreichbar, fährt regelmäßig und in der Hauptverkehrszeit im 5-Minuten-Takt. Geschäfte und Märkte sind mindestens in Fahrradnähe erreichbar und werden durch Lieferdienste ergänzt. Größere Transporte erledigen wir mit Fahrradanhängern oder lassen die Güter anliefern oder abtransportieren. Für die Freizeitgestaltung haben wir den großen Stadtpark in der Nähe, der viele Möglichkeiten bietet. Außerdem haben wir viel (Extra-) Platz auf dem eigenen Gelände, das von Kanälen umgeben ist. Diese laden im Sommer zum Schwimmen und Bootfahren ein. Gelegentlich nutzen wir Mietautos, einen Carsharing-Stellplatz, der ursprünglich einmal geplant war, haben wir mangels Bedarf nicht eingerichtet.

Vorteile für Groß und Klein

Im Alltag machen wir uns kaum Gedanken über die Autofreiheit, sie ist einfach selbstverständlicher Teil des Lebens geworden. Wir genießen es, den Kindern bei ihrer Entwicklung zuzusehen. Die Kleinen machen ihre ersten Schritte ohne die in anderen Wohngebieten ständig vorhandene Angst vor Autos. Die Größeren erobern selbstständig und selbstbewusst immer weitere Räume zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Das ist ein großer Gewinn an Freiheit und Lebensfreude. Und zwar neben den materiellen Vorteilen, die die Erwachsenen direkt und täglich spüren. Weil wir keine Tiefgaragen und Stellplätze bauen mussten, haben wir das gesparte Geld z. B. in einen Fahrstuhl investiert, der im normalen Wohnungsbau nicht finanzierbar gewesen wäre.

Es gab in den vielen Jahren, die wir jetzt hier wohnen lediglich einige wenige (vier!) Anträge von BewohnerInnen für eine befristete Ausnahme von der Autofreiheit. Wir haben sie ausnahmslos genehmigt. Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Der Besitz und die Nutzung eines eigenen Autos in einer Großstadt wie Hamburg sind nicht wirklich notwendig.

Auto-Mobil wenn nötig

Und trotzdem fahren wir gern Auto? Haben wir etwa doch heimlich ein paar Straßen weiter eines stehen, wie manche Nachbarn es böswillig vermuten, weil „es doch anders gar nicht geht“? Nein, wir genießen die Vorzüge der Automobilität in der reinsten Form, nämlich als Fahrgast. Keine Regierungschefin, kein Konzernlenker, kein Filmstar käme auf die Idee, selber ein Fahrzeug zu chauffieren. Um es provozierend zu sagen: Die wirklich wichtigen Bürger/innen werden gefahren. Es ist bequem, den Wagen vorfahren zu lassen, einzusteigen, am Ziel ohne Parkplatzsuche anzukommen, sich nicht die Finger am Benzinhahn schmierig zu machen, sich nicht um Wartung und Reparaturen kümmern oder um steigende Spritkosten sorgen zu müssen. Unsere Vision ist das ruhig dahin gleitende schicke Gefährt auf dem einsamen Weg, der sich sanft in die Landschaft einfügt. So wie es die Werbung vorgaukelt und in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch möglich war.

Erfolgreich seit 10 Jahren

Die Autolobby benutzt dieses Bild, um ihre Produkte zu verkaufen. Leider entspricht es nicht der Realität, die mit Staus, enormem Flächenverbrauch, Herz- Kreislaufkrankheiten wegen der Lärmbelastung, Unfällen mit Tausenden von Toten und noch mehr Verletzten und einer bedeutenden CO2 Belastung zu oft ausgeblendet wird. Wir setzen den negativen Folgen des Autoverkehrs unser seit 10 Jahren erfolgreiches Modell eines urbanen Wohnens ohne Auto entgegen. Es macht Spaß und spart Kosten. Wir zeigen es gern. So gab es beispielsweise am 17. und 18. September diesen Jahres eine große Feier mit prominenten Besucher/innen. Einige Eindrücke finden Sie auf der Internetseite autofreieswohnen. de/10jahre, weitere Information auch auf der Seite der Genossenschaft Wohnwarft eG (www.wohnwarft.de).

Rainer Licht ist Bewohner des Autofreien Wohnens in der Saarlandstraße

Fahrradlied – nach der Melodie der Internationale zu singen!

Steigt aus, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Tanken zwingt!
Das Recht wie Öl aus Dreigangnabe
Nun mit Macht zum Durchbruch dringt.
Reinen Tisch macht mit Luftverpestern!
Heer der Fahrer, steige aus!
Bequem zu sein, tragt es nicht länger
Radler zu werden, strömt zuhauf!
Radler, gebt die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Das Autofreie Wohnen
erkämpft das Fahrradrecht.
Es rettet uns kein Autobauer,
kein Ford, kein Opel, noch VW
Uns von den Kisten zu erlösen,
können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Radlers Rechte,
Leeres Wort: des Autos Pflicht!
Rückschrittlich nennt man uns und Strampler,
duldet die Schmach nun länger nicht!
Radler, gebt die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Das Autofreie Wohnen
erkämpft das Fahrradrecht.
In Stadt und Land, ihr Fahrradleute,
wir sind die stärkste der Partei’n
Die Autofahrer schiebt beiseite!
Diese Welt muss unser sein;
Unser Blut sei nicht mehr Raser,
Nicht der mächt’gen Laster Fraß!
Erst wenn wir sie ersetzet haben
Dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass!
Radler, gebt die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!
Das Autofreie Wohnen
erkämpft das Fahrradrecht.

(Dieser Song entstand im Wohnprojekt Autofreies Wohnen an der Saarlandstraße.)

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 17(2010), Hamburg