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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Das Veringeck in Hamburg Wilhelmsburg

Interkulturelle Angebote für das Älterwerden

*** von Josef Bura ***

„Hosgeldiniz“ (Gesprochen: Hosch geldinis) heißt es, wenn man oben angekommen ist und die Tür zur großen Wohnung in der dritten Etage des Veringecks geöffnet wird. Vorher muss man klingeln und sich zu erkennen geben: an der Hauseingangstür, an der Tür zum Treppenhaus und schließlich an der Wohnungstür. Die junge Frau, die öffnet und einen mit freundlichen Augen anblickt, ist Pflegekraft in der einzigen ambulant betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz aus dem türkischen Kulturkreis in Hamburg.

Hos geldiniz“, das heißt „willkommen“ und wird vom Eintretenden höflich mit einem ebenso freundlichen „Hos bulduk“ beantwortet und das heißt: „Danke sehr“. Und schon wird man hineingebeten in eine große Wohnküche, die zu einer Wohnung gehört, in der zurzeit acht Menschen leben, die Tag und Nacht von einem Pflegedienst betreut und versorgt und von ihren Angehörigen aufmerksam begleitet werden. Doch fangen wir unten vor der Haustüre an, denn das „Veringeck“ ist ein ganz besonderes Haus – nicht nur in Hamburg.

Ein Ort für interkulturelles Leben – mitten im Wilhelmsburg

Auf dem Stübenplatz findet der Wochenmarkt statt – jede Woche mittwochs und samstags. Hier nimmt die Veringstraße, die Schlagader von Wilhelmsburg, ihren Anfang. Unverkennbar sind zu beiden Seiten die vielen türkischen Geschäfte: Lebensmittel, An- und Verkauf technischer Geräte, das Büro eines türkischstämmigen Bürgerschaftsabgeordneten, ein Multi-Kulti- Pflegedienst, Dönerläden, ein portugiesisches Restaurant… Aber dann, was man hier nicht erwartet hätte, ein Schneider mit seinem Ladengeschäft, so als würden hier täglich Maßanfertigungen bestellt.

An der Ecke zum Veringweg befindet sich der einzige Neubau in der Straße und das ist das „Veringeck“. Erst einmal stolpert man über eine der stadtteilbekannten Stelen vor dem Haus, die den Blick auf das Gebäude lenkt, an dem man vielleicht achtlos vorbeigelaufen wäre. Die sagt uns: Dieses Gebäude ist im Rahmen der IBA errichtet worden. Also muss es hier etwas Besonderes geben. Und sowas ist es auch. Ein neuartiges Angebot von Wohnen und Pflege mit interkultureller Ausrichtung. Weil es das für Menschen aus Wilhelmburg bislang nicht gab, aber gut gebraucht wird, kann es zu Recht als ein soziales Aushängeschild der IBA gelten. Gleichwohl muss man auch sagen: Die IBA hat es nicht errichtet, sondern eine private Investorengruppe, die zusammen mit dem Multi-Kulti Pflegedienst das Konzept entwickelt und eine Ausschreibung gewonnen hatte.

Von außen fällt das Gebäude erst auf, wenn man genauer hinschaut. Es ist kein architektonischer Narziss, der sich herausheben und die Blicke auf sich ziehen will. Unverkennbar ist die Absicht des Architekturbüros Gutzeit, das Gebäude in die Umgebung einzupassen aber dennoch architektonische Hinweise auf seine Nutzung zu geben. Erstaunt erkennt nicht nur der Bildungsbürger die feinen Ziselierungen, die außen am Gebäude zu sehen sind. Unwillkürlich denkt man an Alhambra in Granada, an Moscheen in Istanbul oder an Sonderausgaben von Tausend und einer Nacht. „Aha, orientalisch“ assoziiert man und liegt dabei ganz und gar nicht falsch.

Im Erdgeschoss – Café-Bar und türkisches Bad

„Hamam Palace“ ist türkisch-englisch und daher modern. Es steht auf dem Reklameschild an der Ecke zum Veringweg, ist aber nicht wirklich ein Palast. Ein paar Tische auf dem Bürgersteig laden zum Verweilen und Klönen ein: im Sommer für ein Eis, ganzjährig für Cappuccino oder Tee in typisch türkischen Gläsern und für Alkoholika in verschiedenen Darreichungsformen. Das „Hamam Palace“ hebt sich von den Gastronomieangeboten in der Veringstraße mit seinem modernen Cafe-Bar-Charakter ab. Es gibt sich als Eintritt ins Haman, das türkische Bad und richtet sich damit an ganz Hamburg.

Wer in das Badehaus hinein will, muss durch die Cafe-Bar hindurch. Beides wird von demselben Pächter betrieben. Das eigentliche Hamam ist eine Rotunde, die mit türkischem Marmor aus der Gegend von Izmir ausgekleidet ist. Ein stylischer Ruheraum daneben und eine blickgeschützte Außenfläche laden zum Entspannen ein. Die Preise sind unterschiedlich: Einfach reingehen und drei Stunden genießen kann man schon für 15 €. Wer mehr will, kann teurere Angebote mit Massagen, Peelings und Getränken buchen. Also eine Einladung für Menschen mit weniger und mehr Geld im Portemonnaie.

Tagespflegeangebot – zeitweise Entlastung für pflegende Angehörige

Die rechte Seite des Erdgeschosses dient einem ganz anderen Zweck. Dort geht es um Menschen mit Pflegebedarf – konkret um ein Tagespflegeangebot des Pflegedienstes Multi-Kulti. Auch deren Kunden kommen aus ganz Hamburg, zumeist jedoch aus Wilhelmsburg und Harburg. Tagespflege heißt: Angehörige lassen – zu beidseitiger Entlastung – ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder, die ansonsten zu Hause wohnen, an bestimmten Tagen von Profis betreuen. Damit es im Alltag zu einem konstruktiven Miteinander kommen kann, hat der Pflegedienst Multi-Kulti entschieden: An bestimmten Wochentagen werden mehr deutschsprachige Pflegebedürftige, an anderen mehr türkischsprachige aufgenommen. Die vor Ort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beherrschen beide Sprachen und orientieren sich, je nachdem, welche Personen vor Ort sind, an deren Kultur. An den übrigen Wochentagen mischen sich die Kulturen und bereichern sich gegenseitig. Im Sommer halten sich die Gäste der Tagespflege gern im schön gestalteten Hof auf, der auch von den übrigen Bewohnern des Hauses genutzt wird. Hier trifft man sich ungezwungen und manchmal werden auch Feste mit allen Hausbewohnern gefeiert.

Selbständig wohnen – in Rufnähe eines Pflegedienstes

Durch ein von oben belichtetes, großzügiges Treppenhaus erreicht man im 1. und 2. Obergeschoss den Gebäudeteil, in dem „betreutes Wohnen“ stattfindet. Benutzt man nicht den Fahrstuhl sondern nimmt die großzügige Treppe, fallen auch hier jene „orientalischen“ Ziselierungen angenehm auf, ebenso wie ein „Treppenhausauge“ mit Platz für schöne, große, hängende und lebende Grünpflanzen. In der 1. Etage angekommen, öffnet sich der Gemeinschaftsraum der Mieterinnen und Mieter der Servicewohnungen.

In diesen beiden Etagen wurden öffentlich geförderte Ein- und Zwei-Zimmerwohnungen erstellt. Eingemietet haben sich dort neben älteren Menschen, die hierzulande geboren wurden, Menschen, die aus den Lieblings-Urlaubsländern der Deutschen stammen – aus Portugal, Spanien, Italien und der Türkei. Sie lebten und arbeiteten meist seit Jahrzehnten in Hamburg. Ihre Heimatländer sahen sie seitdem allenfalls noch in ihrem Urlaub. Allesamt sind sie wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen – im wahrsten Sinne des Wortes – in Rufnähe eines Pflegedienstes und in schwellenfreie und ebenso erreichbare Wohnungen umgezogen. Insbesondere die kleineren Wohnungen waren schnell vermietet, denn auch im öffentlich geförderten Wohnungsbau muss man sich neu errichtete Wohnungen leisten können. Der Multi-Kulti Pflegedienst liefert den zum Betreuten Wohnen gehörenden Service: Präsenz im Haus, Sozial- und Behördenberatung, Angebote der Geselligkeit und zum sozialen Zusammenhalt.

Ganz nach oben – mit dem Fahrstuhl in die Türkei

Um es gleich vorweg zu nehmen: Sowas, wie hier im „Veringeck“, gibt es in der Türkei nicht. Es kommt dort nicht vor, dass zehn erwachsene Menschen in einer 400 qm großen Wohnung zusammen leben und davon ca. 20 qm für ihr eigenes Privatzimmer mit angeschlossener Sanitäreinheit nutzen können. Es ist traditionell nicht üblich, dass der Alltag von Männern und Frauen in den gleichen Wohnräumen stattfindet. Nicht einmal das Wort „Wohngemeinschaft“ gibt es im Türkischen, ganz zu schweigen von „Wohn-Pflege-Gemeinschaft“, ein Begriff, den man ja auch in Hamburg erst seit zehn Jahren kennt. Dennoch ist es in die dritte Etage eine kulturelle Reise in die moderne türkische Gesellschaft, jedenfalls in die hierzulande.

Dort oben wird „türkische Normalität“ praktiziert, soweit, wie man das für die erste Generation der Migranten sagen kann. Denn das ist der soziale Hintergrund der acht Menschen mit Demenz, die dort bisher eingezogen sind. Türkisches Essen, türkische Sprache – wenn jemand daneben kurdisch spricht, auch kein Problem – landestypische Gebräuche und Feste, türkische Fernsehsender… Möglichst viel soll für die Menschen, die hier einziehen, bleiben, wie es vorher war. Ihre persönlichen Gewohnheiten und Vorlieben sollen sie beibehalten können. Weil sie von Demenz betroffen sind, können sie nicht mehr alleine leben. Daher werden sie jetzt in ihrem Alltag von Assistenzund Pflegekräften betreut.

Manche Angehörige, die in Wilhelmsburg leben, besuchen ihre Familienmitglieder fast täglich, andere, die weiter entfernt wohnen, einmal die Woche und wieder andere tun es seltener. Einmal im Monat treffen sich die Angehörigen – begleitet von einem Beirat – um sich über Alltägliches oder Besonderes auszutauschen. Denn die Angehörigen sind für Ihre Familienmitglieder weiter verantwortlich. Nur eben nicht jeden Tag und nicht 24 Stunden. Das erledigt in Ihrem Auftrag der Pflegedienst.

Für die Angehörigen waren die ersten Monate schwer. Grund war in allen Fällen die große Not und Überforderung gewesen, in der sie sich befanden, als sie entschieden haben, Vater oder Mutter nicht mehr alleine leben zu lassen oder bei sich zu Hause zu betreuen. Die fortschreitende Demenz hatte es unmöglich gemacht, neben Beruf und Kindern auch noch 24 Stunden für das betroffene Familienmitglied verantwortlich zu sein. Da war es für alle eine Erleichterung, dass es diese neue Form der Wohngemeinschaft gab. Dennoch blieben die Selbstzweifel, wurden kritische Fragen aus der eigenen Familie gestellt sowie Beschuldigungen aus der Nachbarschaft geäußert. „Wie kannst du nur sowas tun“. Jetzt nach fast zwei Jahren Wohngemeinschaftsleben sind die Angehörigen sicherer, das Richtige getan zu haben – für Ihre Familienmitglieder und für sich selbst. Das vor allem auch, weil es denen dort erkennbar besser als vorher geht.

Vor allem jedoch für die Familienmitglieder war es nicht leicht, in ihrem neuen zu Hause anzukommen. Denn die Seele braucht dafür länger als der Körper. Hinzu kommt: In ihren Vorstellungen vom Älterwerden war das undenkbar, was sie jetzt erleben. Ihr Bild im Kopf ist das, das sie noch aus der Türkei kennen: Altwerden in der eigenen Familie. Daher ist es tröstlich, wenn man sie jetzt öfter mit eigenen Worten sagen hört: „Ich bin hier zu Hause!“ und wenn sie damit erkennbar die Wohngemeinschaft meinen.

Dr. Josef Bura ist Sprecher des Beirats der Wohngemeinschaft Veringeck und Vorsitzender des FORUM Gemeinschaftliches Wohnen, Bundesvereinigung, Hannover.

INVESTORGbR VeringeckEin Zusammenschluss von privaten
Investoren
NUTZUNGEN
ErdgeschossHamam –
türkisches Badehaus
Café-Bar
Tagespflegefür täglich 13 Personen
Hoffür alle, die ganz oder tageweise im Haus
leben
1. und 2. Etage17 Wohnungen
von 37– 67 qm
Service Wohnen für ältere Menschen
3. Etage1 WohnungService Wohnen
Wohn-Pflege-
Gemeinschaft
für 10 Personen
BETREUUNGSUND
PFLEGEANGEBOTE
Multi-Kulti,
Gesundheits- und
Pflegedienst
International GmbH
Betreiber der Tagespflege, Anbieter von
Service im betreuten Wohnen, Dienstleister
in der Wohn-Pflege-Gemeinschaft
Im Überblick: Das Veringeck und seine Angebote

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 19(2013), Hamburg