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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Vom Roller zum Rollator

Ein Quartier für alle Lebenslagen in der HafenCity

*** Interview mit Susanne Wegener ***

Innerhalb der nächsten Jahre entsteht rund um den Baakenhafen in der Hamburger Hafencity ein urbanes Wohn- und Freizeitquartier mit 1.800 teilweise öffentlich geförderten Wohnungen und ca. 5.000 Arbeitsplätzen mitten im Elbstrom. Vorgesehen sind Sport- und Freizeiteinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten, Gastronomie, Kitas und eine Grundschule.

Ein besonderes Augenmerk wird auf vielfältige Wohn- und Versorgungsformen, auf Begegnungsräume und fruchtbare Kooperationen zwischen Wohnungswirtschaft und sozialen Trägern gelegt: Die zukünftigen Quartiersbewohner sollen – unabhängig von Pflege- oder Assistenzbedarf – im Baakenhafen nachbarschaftlich zusammenleben und alt werden können. Grundlage für diese inklusive Quartiersausrichtung ist ein Konzept, das vom Netzwerk Hafencity e.V. entwickelt wurde und von der HafenCity Hamburg GmbH auch umgesetzt wird. In konstruktiver Zusammenarbeit zwischen dem Netzwerk-Verein, der HafenCity Hamburg GmbH, der Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften und weiteren Akteuren wurden die ersten Weichen für ein Quartier für alle Lebenslagen gestellt.

Plan Quartier Baakenhafen (Grafik: HafenCity GmbH)

FreiHaus: Frau Wegener, Sie sind Mitbegründerin des Netzwerk HafenCity e.V. Worum geht es Ihrem Verein?

Susanne Wegener: Das Netzwerk Hafen-City ist seit Anfang 2010 im Sinne eines Stadtteilvereins in der Hamburger HafenCity aktiv. Unsere Mitglieder entsprechen der Vielfalt eines Stadtteiles: Bewohner/innen, Gewerbetreibende, Dienstleister, Kulturschaffende, soziale Träger und kirchliche Einrichtungen. Wir haben eine Plattform geschaffen, um Nachbarschaft zu fördern, die Interessen der Anwohner, Initiativen und Gewerbetreibenden zu vertreten und die HafenCity zu einem sozialen, nachhaltigen, integrativen und kulturell vielfältigen Stadtteil mit zu entwickeln. In unseren Projekten werden wir partnerschaftlich von dem Entwicklungsmanagement, der HafenCity Hamburg GmbH, unterstützt. Das macht bereits jetzt diesen neuen Stadtteil besonders lebenswert und spannend.

FreiHaus: Wie stellen Sie sich ein Quartier für alle Lebenslagen vor?

Susanne Wegener: Unser Stadtteilverein setzt sich unter anderem dafür ein, dass die HafenCity zu einem sozial gut durchmischten Quartier für alle Lebenslagen, einschließlich bezahlbaren Wohnraums für untere und mittlere Einkommen, zusammenwächst.

So ist es für uns z. B. wichtig, sozialer Isolation vorzubeugen. Insbesondere auch dann, wenn durch Krankheit, Alter oder Behinderung die Mobilität eingeschränkt ist oder auch Pflege und Assistenz notwendig werden. Wir folgen damit einem Verständnis von Inklusion, das eine Haltung der selbstverständlichen Zugehörigkeit aller Menschen zur Gesellschaft ausdrücken möchte. Dies verbunden mit der Möglichkeit zur uneingeschränkten Teilhabe und selbstbestimmten Lebensführung in allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Von ganz praktischer Bedeutung sind zum Beispiel flexible Bauweisen, die sich unterschiedlichen bzw. kommenden Wohnbedarfen ohne großen Aufwand anpassen lassen sowie weitgehende Barrierefreiheit in den Innen- und Außenräumen. Sie erhöhen die Chance einer selbständigen Lebensführung und sind letztlich auch ein Komfort für Alle. Diese Aspekte fanden in dem Masterplan für die HafenCity bislang kaum Berücksichtigung, so dass wir in Absprache mit der HafenCity Hamburg GmbH und mit Unterstützung der Hamburger Fachwelt unsere Vorstellung für künftiges Planen und Bauen im Quartier Baakenhafen entwickelten. (Das Konzept ist auf der Website des Vereins zu finden: www.netzwerk-hafencity.de/home/ag-soziales-netz/ein-quartier-für-alle-lebenslagen/)

Für die nächsten Bauabschnitte im Quartier Baakenhafen haben wir unsere Visionen zugunsten einer zukunftsorientierten alters- und behindertengerechten Wohn- und Versorgungsstruktur zu Papier gebracht. Es bestehen beste Chancen, dass erste Schritte bis 2017 umgesetzt werden können. Der Entwicklungszeitraum für das Gesamtquartier beläuft sich insgesamt bis 2020.

FreiHaus: Welche Rolle spielt das Thema Alter und Pflege in dem Neubauquartier?

Susanne Wegener: Alter, Versorgung und Pflege spielen für uns eine wichtige Rolle, vor allem auch mit Blick auf den demografischen Wandel. Alle Menschen können bereits heute mit einer längeren Lebensphase rechnen, in der körperliche, psychische und geistige Einschränkungen zum normalen Alltag gehören. Zufriedenheit und Lebensqualität haben für uns viel damit zu tun, dass wir in den vertrauten vier Wänden, in unserem Quartier alt werden können. Dazu gehören neben einer möglichst barrierefreien Umgebung, fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeiten, barrierefreier ÖPNV, Beratungseinrichtungen, soziale und nachbarschaftliche Kontakte sowie ein vielfältiges ärztliches und pflegerisches Versorgungs- und Unterstützungsnetzwerk.

Unsere Vorstellungen für Planen und Bauen im Quartier Baakenhafen beinhaltet ein abgestuftes Konzept für Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsund Pflegebedarfen. Sehr wichtig ist uns deshalb eine Mixtur aus familiärer, nachbarschaftlicher und professioneller Hilfe. Das heißt: Wir brauchen innovationsfreudige Dienstleister und Träger, die sich darauf verstehen, informelle, private Netzwerke mit professioneller Assistenz und Pflege je nach Bedarf zu verknüpfen.

FreiHaus: Wohnvielfalt für alle Lebenslagen: Wie soll das konkret aussehen?

Susanne Wegener: Angestrebt werden Wohnhäuser rund um den geplanten Marktplatz für generationsübergreifendes Wohnen sowie verlässlich organisierte Dienstleistungen in überschaubaren Hausgemeinschaften.

Als Basis bedarfsorientierten Wohnens verstehen wir Mehrfamilienhäuser (z. B. von Genossenschaften, Baugemeinschaften) mit bezahlbarem Wohnraum und bedarfsdeckenden Anteilen an barrierefreien Wohnungen. Der Wohnungszuschnitt orientiert sich an den Bedürfnissen von Familien mit Kindern sowie an den Bedürfnissen von Senioren und Menschen mit Behinderung. Für seniorengerechtes Wohnen bedeutet dies, eine ausreichende Anzahl von barrierefreien 1- bis 2-Zimmerappartements dezentral in den Wohnblöcken anzubieten.

Vielfach wird heute der Wunsch geäußert, in einer generationsübergreifenden Gemeinschaft zu leben. Die Idee: Menschen in vielerlei Lebenssituationen können sich einander nachbarschaftlich unterstützen und voneinander profitieren. Die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe im Alltag, z. B. bei der Betreuung von Kindern oder der Hilfe für die Älteren, ist wichtiger Bestandteil des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Da bieten Gemeinschaftsräume mit Küche, die sowohl den Hausbewohnern als auch, bei kulturellen Veranstaltungen etc. dem Stadtteil offen stehen, beste Möglichkeiten.

FreiHaus: Und wenn es zur Pflegebedürftigkeit kommt?

Susanne Wegener: Für pflegebedürftige Personen sollten in dem Quartier ein bis zwei ambulant betreute Wohn-Pflegegruppen integriert sein. In jeder können 7 bis 10 Personen mit jeweils eigenem Schlaf- und Wohnraum als Rückzugsbereich und gemeinsam genutzten Wohn- und Gemeinschaftsräumen, Küche und Bad zusammen wohnen.

Bei Bedarf werden sie von professionellen Pflege- bzw. Assistenzkräften und/oder Privatpersonen betreut bzw. unterstützt. Da die Bewohnerinnen und Bewohner nur auf Wunsch Hilfestellungen bekommen, können sie ihre Selbständigkeit so lange wie möglich erhalten und trainieren.

Wohngemeinschaften bieten auch für demenzbetroffene Menschen vielfältige Alltagsaktivitäten – jedoch ohne „heimtypische“ Strukturen und Regelungen. Jede/r bezahlt das eigene Zimmer und anteilig etwas von den gemeinsamen Räumen zu ganz normalen Mietkonditionen. Ein festes Team eines ambulanten Pflegedienstes ist als „Gast“ im Hause – rund um die Uhr anwesend. Das Modell einer Wohngruppe ist auch für nicht- oder kaum unterstützungsbedürftige Menschen denkbar: Sie unterstützen sich – soweit es nötig und möglich ist – gegenseitig. Dienstleistungen werden nur „hinzugebucht“.

Wenn die ambulante, selbstorganisierte Pflege nicht mehr ausreicht oder in absehbarer Zeit zu umfangreich wird, kann ein stadtteilintegriertes Wohnhaus mit Einzelzimmern oder Appartements sowohl für Alleinstehende als auch für Paare eine lebenslange Perspektive anbieten. Das Unternehmen vermietet den Wohnraum an ältere, pflegebedürftige oder behinderte Menschen und hält, vertraglich geregelt, gleichzeitig oder zu einem späteren Zeitpunkt Pflege- oder Betreuungsleistungen vor.

FreiHaus: Gab es Unterstützung für Ihr Quartierskonzept?

Susanne Wegener: Wir wurden bislang sehr fachkundig von der Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften, der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, dem Verein Barrierefrei leben e.V. und der Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen begleitet.

Es erstaunt und motiviert uns gleichzeitig, dass in der HafenCity ein Konzept aus zivilgesellschaftlicher Feder sowohl bautechnisch als auch sozial prägend – hoffentlich erfolgreich und beispielhaft – umgesetzt werden soll. Beispielhaft ist jedenfalls die Unterstützung unserer eben genannten Expertinnen und dazu werden wir in jeder Hinsicht seitens der HafenCity Hamburg GmbH sehr kooperativ und wertschätzend zur Mitwirkung und Weiterentwicklung unseres Stadtteils ermuntert und aufgefordert.

FreiHaus: Wie sehen die nächsten Schritte aus?

Susanne Wegener: Die Zielsetzung der HafenCity Hamburg GmbH ist es, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Unser Ziel ist es, die schrittweise Konkretisierung unserer Vorstellung einer inklusiven Quartiersentwicklung aktiv zu begleiten und zu unterstützen. Im Spätsommer 2013 erfolgen die Grundstücksausschreibungen mit den genannten Bauvorhaben an die Bauherren und Investoren. Parallel dazu erhalten potentielle Träger und Dienstleister Fragebögen und Informationsangebote, um ihr Interesse zu bekunden. Danach folgt eine Vorstellungsveranstaltung mit Bauherren, sozialen Trägern, unserem Netzwerk und natürlich der HafenCity Hamburg GmbH. Unser Netzwerk wird auch an den Architekturwettbewerben beteiligt sein.

Susanne Wegener ist Vorsitzende des Netzwerks HafenCity e.V..

Das Gespräch führte Ulrike Petersen von der Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften. Der Erstabdruck erschien im Journal für Wohn-Pflege-Gemeinschaften 2013.

Informationen

HafenCity Hamburg GmbH
www.hafencity.com

  • 100 %ige Tochter der Freien und Hansestadt Hamburg
  • entwickelt die HafenCity im Auftrag der Stadt
  • Der Aufsichtsrat wird unter Vorsitz des 1. Bürgermeisters von Senatsmitgliedern gestellt.

Netzwerk HafenCity e.V.
www.netzwerk-hafencity.de

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 19(2013), Hamburg