*** von Dirk Schubert ***
Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit im Jahr 1990 markierte einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des sozialen Wohnungsbaus: Wurde die Versorgung einkommensschwacher Teile der Bevölkerung in der Bundesrepublik lange Zeit als wichtige und staatlich zu unterstützende Aufgabe betrachtet, markiert die Wende von den 1980er zu den 90er Jahren eine deutliche Neoliberalisierung der Wohnungsversorgung. Heute stellt sich die Frage, ob aus der Geschichte gelernt werden kann und ob innovative Reformansätze vor dem Hintergrund der aktuellen Wohnungskrise in Großstädten neu und anders genutzt bzw. reaktiviert werden können? Haben derartige Ideen im Zeitalter der Dominanz neoliberaler Politik noch einen Stellenwert und wie könnten sie kreativ genutzt werden?
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts etikettierten Wohnungsbauunternehmen, vor allem Genossenschaften, ihre Vorhaben als „gemeinnützig“. Damit waren vage Vorstellungen verbunden, dass nicht gewinnorientiert gearbeitet, sondern soziale Aspekte wie die Mietzahlungsfähigkeit von unteren Einkommensgruppen berücksichtigt werden sollte.
Erst 1930 erfolgte eine Präzisierung des bis dahin unbestimmten Kriteriums „Gemeinnützigkeit“ im Wohnungswesen. Sie wurde nicht in einem Gesetz geregelt, sondern im Rahmen einer Notverordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen. Eine Definition von „gemeinnützig“ wurde mittels des Kunstgriffs umgangen, dass nur Unternehmen den Titel führen durften, die als solche rechtskräftig anerkannt waren. Diese Gemeinnützigkeitsverordnung (GemVO) bestand bis 1940, als die Nationalsozialisten mit dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG) eine Konkretisierung lieferten, die bis zur Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 galt und den Titel „Gemeinnütziges Wohnungsunternehmen“ schützte.
Damit waren Bindungen und Beschränkungen der Geschäftstätigkeit verbunden:
- Die Tätigkeit gemeinnütziger Wohnungsunternehmen war auf den Bau und die Betreuung, die Bewirtschaftung und den Verkauf von Wohnungen sowie auf die Maßnahmenträgerschaft von städtebaulichen Entwicklungs- und Sanierungsmaßnahmen beschränkt (Beschränkung der Geschäftstätigkeit)
- Gemeinnützige Wohnungsunternehmen durften für ihre wohnungswirtschaftlichen Leistungen keinen höheren Preis beanspruchen als den, der zur Deckung der Kosten bzw. laufenden Aufwendungen notwendig war (Kostenmietenprinzip)
- Die Genossenschaftsmitglieder und Eigentümer*innen bzw. Gesellschafter*innen eines gemeinnützigen Wohnungsunternehmens erhielten jährlich eine Gewinnbeteiligung von höchstens
- Prozent ihrer eingezahlten Kapitaleinlage. Überschüsse, die nicht ausgezahlt wurden, mussten wieder zur Erfüllung der gesetzlichen Unternehmensaufgaben reinvestiert werden (Gewinnbeschränkung)
- Das gesamte Vermögen der Wohnungsunternehmen war an den gemeinnützigen Zweck gebunden (Baupflicht und Reinvestition). Der Stiftungscharakter kam darin zum Ausdruck, dass das Vermögen nur zu einer sozialorientierten Wohnversorgung der Bevölkerung eingesetzt werden durfte (Zweckbindung des Vermögens)
Als Ausgleich für diese Verpflichtungen wurden die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen von der Körperschaft-, Gewerbe- und Vermögensteuer befreit. Darüber hinaus gab es Befreiungen bei der Grunderwerbsteuer und Ermäßigungen bei der Grundsteuer. Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen unterlagen einer Prüfungspflicht, ob die gemeinnützigkeitsrechtlichen Vorschriften eingehalten wurden. Erst nach erfolgter Anerkennung galt ein Wohnungsunternehmen als gemeinnützig.
Es galt eine Pflicht für gemeinnützige Wohnungsunternehmen, ständig neue Wohnungen zu erstellen. Ziel dieser Baupflicht war ein kontinuierliches Anwachsen der gemeinnützigen Bestände. Der Bau der Wohnungen wurde mit öffentlichen Baudarlehen gewährleistet, in deren Tilgung eine Steigerung der Miete in regelmäßigen Abständen einprogrammiert war. Grundgedanke dieser Art der Förderung war die Erwartung entsprechender Einkommenssteigerungen.
Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen unterlagen somit bestimmten Verhaltens-, Vermögens- und Zweckbindungen. Die Kodifizierung sollte aber weitgehende Interpretationsmöglichkeiten bieten. Die Grenzen zwischen privatwirtschaftlichem Erwerbsstreben, solidarischer, genossenschaftlicher Selbsthilfe, Fokussierung auf Gemeinwohl, öffentlichem Interesse und wirtschaftlich schwächeren Schichten blieben offen und sollten unternehmerische Nischen für die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen eröffnen. Auf die Problematik des wenig geklärten Begriffs „Gemeinnützigkeit“ und möglichen Missbrauch wurde in der Fachliteratur bereits frühzeitig hingewiesen. Es sei immer wieder neu zu entscheiden, ob die Wahl der Rechtsform der Gemeinnützigkeit real die Erfüllung eines Tatbestandes „gemeinnützig verbürgt und ob umgekehrt nicht auch Bauherren, in dem tatsächlichen Ergebnis gemeinnützig sein können“. Aber immer war der Begriff der Gemeinnützigkeit mit Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft und solidarischen Verhaltensgeboten verbunden.
Im Oktober 1982 stellte Helmut Kohl nach dem politischen Machtwechsel in Bonn „mehr Markt und weniger Staat“ in das Zentrum seiner Regierungserklärung. Die „Offensive der Marktwirtschaftler“ auch in der Wohnungswirtschaft und die Kontroverse um die Wohnungsgemeinnützigkeit polarisierte die Debatte: Regierung, private Wohnungsunternehmen und Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer*innen standen auf der einen Seite, ihnen gegenüber die gemeinnützige Wohnungswirtschaft und Mietervereinigungen. Der Deregulierung der Wohnungspolitik folgte eine verstärkte Eigenheimförderung, dem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau eine „Abfederung“ durch Wohngeldzahlungen.
Noch 1983 gab es in der Bundesrepublik 1.850 gemeinnützige Wohnungsunternehmen, darunter ca. 600 Kapitalgesellschaften und 1.217 Genossenschaften. Während die Bauminister der Länder (ARGEBAU) eine Beibehaltung des Prinzips der Gemeinnützigkeit mit starkem sozialen Auftrag befürworteten, war die von Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) eingerichtete Kommission der Meinung, dass die Notwendigkeit einer rechtlichen und steuerlichen Sonderstellung bei einem entspannten Wohnungsmarkt nicht mehr gegeben sei. Kritiker*innen monierten, dass die erwarteten Steuermehreinnahmen unrealistisch seien und dagegen Mieterhöhungen und höhere Wohngeld- und Sozialhilfeabgaben bei Bund, Ländern und Gemeinden nach sich ziehen würden. 1990 wurde die Steuerfreiheit der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen dann durch ein Steuerreformgesetz abgeschafft. Die fiskalpolitische Sichtweise hatte sich durchgesetzt.
Die über 100 Jahre gewachsene Wohnungsgemeinnützigkeit war allerdings nicht zuletzt durch das Debakel der Neuen Heimat in Misskredit geraten. Die Neue Heimat war das damals größte gemeinnützige Unternehmen, welches aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden war, dem Deutschen Gewerkschaftsbund gehörte und öffentlich den Anspruch verfolgte, die Wohnungsfrage durch den Bau von Kleinwohnungen zu überwinden. Die hehren ethischen und moralischen Ansprüche von Gemeinwirtschaft und Gemeinnützigkeit hatten sich über die Zeit jedoch in Dreistigkeit, private Bereicherung und eine Selbstbedienungsmentalität gewandelt. Genüsslich wurde die Diskrepanz von Anspruch
und tatsächlichem Verhalten von Gewerkschaftsfunktionär*innen und dem Neue Heimat-Vorstand von Konservativen und Wirtschaftsliberalen aufgegriffen. Die Abwicklung der Neuen Heimat sollte die Gewerkschaften ca. 1 Milliarde Mark kosten.
Die öffentliche Debatte wurde über mehrere Jahre vom Unternehmensgeflecht der Neuen Heimat und einer Begriffsakrobatik beherrscht (z. B. „zulässige“ Mieterhöhungen nach Kostenmietenprinzip), die außerhalb der Regelungen der Wohnungsgemeinnützigkeit kaum verständlich waren. Hier wurde von den Medien („Mietwucher“) auf Vermieterwillkür, auf Verfilzung und Bereicherung der „Bosse“ und letztlich auf das ganze System der Gemeinnützigkeit und Gemeinwirtschaft geschlossen, dass – so die verbreitete Sichtweise – keine Alternative zum privaten Wohnungsbau bieten könne.
Gemeinnützige Organisationen und Körperschaften, die dem Gemeinwohl dienen und als solche anerkannt sind, blieben allerdings auch nach 1990 steuerbegünstigt. So orientieren sich viele Genossenschaften freiwillig an Vorgaben der Gemeinnützigkeit. Der Neue Heimat-Skandal orchestrierte jedoch die Debatte und diskreditierte bis heute alle Reformversuche der Wohnungsgemeinnützigkeit. Vor dem Hintergrund aktueller Wohnungsversorgungsengpässe wäre es jedoch zu wünschen, dass eine neue und unbeschwerte Diskussion um gemeinnützig orientiertes Handeln im Bereich der Wohnungswirtschaft möglich wird.
Prof. Dr. Dirk Schubert forscht und lehrt im Bereich Wohnen und Stadtgeschichte an der HafenCity Universität Hamburg.
zuerst veröffentlicht: FREIHAUS 27(2023), Hamburg