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Artikel Stadtentwicklung Wohnungspolitik

#einfachwohnen – in Hamburg nur ein Traum

Bessere Versorgung von Wohnungsnotfällen nicht auf der politischen Agenda des Senats

*** Stefan Nagel ***

Etwa 12.000 Wohnungsnotfälle kann die Stadt Hamburg nicht mit dringend benötigten Wohnungen versorgen. Das Hamburger Bündnis für eine neue soziale Wohnungspolitik1 startete im August 2019 die Kampagne #einfachwohnen, um auf die dramatische Situation der Wohnungssuchenden aufmerksam zu machen. Über diese Kampagne im Vorfeld der Bürgerschaftswahl und ihre Hintergründe berichtet der folgende Text.

Die „neue Wohnungsnot“, die sich in vielen Regionen der Republik über einen längeren Zeitraum entwickelt hat, war im Laufe des Jahres 2012 auf den Titelseiten der großen Zeitungen und Magazine angekommen und rückte auch auf der politischen Agenda nach vorne. Die Antworten auf diese neue Wohnungsnot bestanden und bestehen in Hamburg wie anderen Ortes im Wesentlichen nur darin, den Wohnungsbau anzukurbeln, die Mietpreisentwicklung sorgenvoll zu betrachten und unentschieden ein bisschen zu bremsen sowie den Bau von Sozialwohnungen voranzutreiben. Zwar sind diese Maßnahmen notwendig und richtig, sie reichen aber nicht aus, um die auf dem Wohnungsmarkt besonders Benachteiligten mit Wohnraum zu versorgen. Denn es gibt viele Gruppen, die auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt nicht nur aufgrund ihres Einkommens benachteiligt sind, sondern aufgrund von Vorbehalten diskriminiert und ausgegrenzt werden, oder aus anderen Gründen sich nicht selbst versorgen können. Der Bau von Sozialwohnungen allein kann dagegen nur wenig ausrichten, denn die auf dem Markt besonders Benachteiligten konkurrieren mit beliebteren oft in Arbeit stehenden Interessenten, die ebenfalls auf Sozialwohnungen angewiesen und zum Bezug berechtigt sind.
Besonders oft handelt es sich um Personen, die eine barrierefreie Wohnung benötigen, Haushalte (insbesondere mit Kindern) in sehr beengten Wohnverhältnissen, von Gewalt betroffene Personen, Personen, die aus sozialen und/oder therapeutischen Einrichtungen entlassen werden sollen, ­junge Erwachsene sowie von Wohnungslosigkeit bedrohte oder betroffene Personen. Diese Wohnungssuchenden werden, wenn sie dringend auf eine angemessene Wohnung angewiesen sind und sich nicht selbst versorgen können, in Hamburg durch die Bezirke als „vordringlich Wohnungssuchende“ anerkannt (Dringlichkeitsscheine/ Dringlich-keitsbestätigungen, sogenannte WA-Fälle).


ZAHL DER WOHNUNGSNOTFÄLLE STEIGT AN


Zwar hat der hamburgische Senat Anfang 2016 ein „Gesamtkonzept zur besseren Versorgung von anerkannt vordringlich Wohnungssuchenden mit Wohnraum“ (Drs 21/2905) auf den Weg gebracht und im weiteren Verlauf ein wenig nachgebessert, jedoch waren die projektierten Maßnahmen zur Lösung der Probleme in qualitativer und quantitativer Hinsicht
völlig unzureichend: Jedes Jahr laufen weitere WA-Bindungen aus, die aktuell noch verbliebenen etwa 34.000 Bindungen für Wohnungsnotfälle werden sich in den nächsten fünf Jahren um weitere 9.000 reduzieren. Die bisherige – unzureichende – Zielsetzung, jährlich 500 neue Wohnungen für vordringlich Wohnungssuchende durch Wohnungsbau und Bindungs­ankäufe zu schaffen, wurde in keinem der vergangenen Jahre auch nur annähernd erreicht.
Ergebnis dieser verfehlten Politik: Die Zahl der unversorgt gebliebenen Wohnungsnotfälle stieg von 3.000 – 4.000 Haushalten vor gut zehn Jahren auf 7.857 Haushalte in 2015 und dann auf rund 12.000 Haushalte in 20192.
Caritas Hamburg, Diakonie Hamburg, Mieter helfen ­Mietern und STATTBAU HAMBURG gründeten angesichts dieser besorgniser-regenden Entwicklungen das „Hamburger Bündnis für eine neue soziale Wohnungspolitik“ und stellten der Öffentlichkeit im Juni 2016 einen Ziel- und Maßnahmenplan3 zur Veränderung der Situation vor. Die Lobbyaktivitäten dieses Bündnisses in den folgenden drei Jahren hatten jedoch keinen substantiellen Erfolg.
Im Vorfeld der Bürgerschaftswahl (23.02.2020) startete dann das Bündnis im Sommer 2019 die Kampagne #einfachwohnen, um die Notsituation der Wohnungsnotfälle und die Lösungsvorschläge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und den Druck auf die Politik zu erhöhen. Für diese Kampagne wurde ein breiterer Unterstützerkreis gewonnen und eine eigene Website gestaltet4. Die Kernforderungen der Kampagne wurden in einem Aufruftext zusammengefasst:
„ […] Aber wir können die Wohnungsnot in den Griff bekommen. Dazu muss der Senat schnell und entschlossen handeln – mit einem klaren Programm für eine soziale Wohnungspolitik. Der Senat muss sich ein klares, überprüfbares Ziel setzen: In den nächsten fünf Jahren soll die Zahl der Wohnungsnotfälle halbiert werden. Bauen alleine reicht nicht. Zusätzlich müssen pro Jahr mindestens 5.000 Wohnungen für Wohnungs-notfälle aus dem Bestand zur Verfügung gestellt werden. Das ist möglich, wenn der Senat die verfügbaren Stellschrauben nutzt und die stadteigenen Betriebe (wie etwa die SAGA) in die Pflicht nimmt! Auf lange Sicht sind weitere Änderungen notwendig: Mehr Sozialwohnungen. Statt Drittelmix mindestens 50 Prozent Sozialwohnungen bei Neubauprojekten. Mehr Wohnungsneubau für Wohnungsnotfälle. […]“5

PROTEST STÖSST AUF ÖFFENTLICHE RESONANZ

Ab August 2019 meldete sich die Kampagne #einfachwohnen immer wieder auf Veranstaltungen und in Pressemitteilungen zu Wort. Darüber hinaus stellen einige Aktionen verschiedene Aspekte der Wohnungsnot und Lösungsansätze vor. Nach der Auftaktpressekonferenz unter freiem Himmel auf der Reesendammbrücke – in Sichtweite des Rathauses – wurde im September 2019 vor einem seit sechs Jahren leerstehenden Haus in der Sommerhuder Straße auf den Skandal des Wohnungsleerstandes aufmerksam gemacht. Später wurde gemeinsam mit bauwilligen sozialen Investoren im Rahmen eines symbolischen ersten Spatenstichs auf einem Grundstück in Bahrenfeld der Senat aufgefordert, städtische Flächen für Wohnungsbau für Menschen in Not anzubieten. Mit einer Aktion auf dem Kleinen Grasbrook bekräftigte die Kampagne ihre Forderung nach einer 50-Prozent-Quote für den sozialen Wohnungsbau und forderte, dass die Hälfte der in diesem Stadtteil geplanten 3.000 Wohnungen öffentlich gefördert – und wiederum die Hälfte davon speziell für Wohnungsnotfälle gebaut werden sollen.
Diese Aktivitäten fanden zwar Resonanz in den Medien und in einer kritischen Öffentlichkeit nicht jedoch bei den politisch Verantwortlichen. Im Koalitionsvertrag6, der nach der Wahl im Februar zwischen SPD und Grünen coronabedingt erst im Juni 2020 vereinbart wurde, finden sich keine Maßnahmen, die die Versorgung der Wohnungsnotfälle verbessern könnten.

… NICHT JEDOCH IN DER POLITIK

Es findet sich nicht einmal die Absichtserklärung, die sogenannten Freistellungsgebiete in Mümmelmannsberg, Neuallermöhe-West, Steilshoop und Wilhelmsburg auslaufen zu lassen. Mit dieser kostenfreien Maßnahme könnten ab sofort jährlich rund 500 Wohnungen zusätzlich im Rahmen normaler Umzugsfluktuation Wohnungsnotfällen zur Verfügung gestellt werden. Sozialwohnungen mit einer zusätzlichen WA-Bindung würden so ihrer ursprünglichen und staatlich finanzierten Bestimmung zugeführt7. Im Rahmen eines ­Kooperationsvertrages könnten die Wohnungsunternehmen die wieder aktiv werdenden Bindungen im Rahmen des vereinbarten unternehmensinternen Bindungstausches in Stadtteilen ihrer Wahl verwirklichen. Schon deshalb sind Befürchtungen, die entsprechenden Stadteile könnten in eine Schieflage geraten, unberechtigt.
Die Kampagne #einfachwohnen hat ihr Ziel, dass Maßnahmen für eine deutliche Verbesserung der Versorgung von Wohnungsnotfällen im Koalitionsvertrag verankert werden, nicht erreicht. Offenbar fehlt der politische Wille, sich des Problems anzunehmen und sich an der Lösung des Problems messen zu lassen. Auch ist es nicht gelungen, die verantwortlichen Politiker von SPD und Grünen davon zu überzeugen, eine Lösung der Wohnungsversorgungskrise auch für Wohnungsnotfälle anzustreben und dies dazu gegen die Widerstände großer Teile der Wohnungswirtschaft und von Lokal- und Stadtentwicklungspolitikern sowie antizipierter Widerstände in der Bevölkerung zu verfolgen. Das im
„Bündnis für das Wohnen“ zum Ausdruck kommende nicht nur kooperative, sondern auf Konsens mit der Wohnungswirtschaft angelegte Politikmodell, verhindert offenbar, dass – wenn nötig auch im Konflikt mit der Wohnungswirtschaft – für die auf dem Wohnungsmarkt besonders Benachteiligten mehr erreicht werden kann.

Stephan Nagel ist Referent für Wohnungslosen-, Suchtkranken-
hilfe und Armut beim Diakonischen Werk Hamburg und hat in der ­Kampagne #einfachwohnen mitgearbeitet.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 25(2020), Hamburg