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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Else mit der Hupe

*** von Ulrike Petersen ***

Aus Jungen werden Alte und Alte werden älter – auch in Wohnprojekten. Ändern sich dann die Ansprüche aneinander? Erfahrungen und Überlegungen zum Thema aus dem Hamburger Pantherhaus.

Mit viel Elan, Durchhaltevermögen und persönlichen Erwartungen werden seit Jahrzehnten bundesweit Gemeinschaftswohnprojekte realisiert. Frauenprojekte, Alt-Jung-Häuser, Projekte alleinerziehender Menschen – eine Vielzahl und Vielfalt gruppenorientierter Wohnformen hat sich bereits etabliert. Mit welchem Schwerpunkt auch immer, die Projekte versprechen (sich) attraktive und dauerhafte Alternativen zum ungewollten Alleinsein, zum klassischen Kleinfamiliendasein und zum Leben in Alten- und Behinderteneinrichtungen. Sie setzen auf Nachbarschaft, auf gegenseitige Unterstützung und gemeinsamen Alltag.

Aber was passiert, wenn die Projekte samt Bewohnerschaft in die Jahre kommen? Wie soll mit Krankheiten, Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit umgegangen werden? Wann sind die Grenzen der zwischenmenschlichen Hilfe erreicht?

Nur ein geringerer Teil der Wohnprojekte setzt sich von Anfang an bewusst mit diesen Fragen auseinander, manche werden von der Realität überrascht. Früher oder später ist wahrscheinlich jedes Projekt mit der Situation konfrontiert, dass ein oder mehrere Nachbarn ihren Alltag nicht ohne Unterstützung bewältigen können. Dann ist praktisches Handeln gefragt.

Einige Wohnprojektgruppen, in denen nur ältere Menschen oder mehrere Generationen seit Jahren zusammenwohnen, haben bereits praktische Erfahrungen gemacht. „Nehmen ist schwieriger als Geben!“, so die persönliche Einschätzung eines älteren Bewohners des Pantherhauses in St. Pauli, als in der Hausgemeinschaft über dieses Thema gesprochen wurde. „Passt bloß auf mich auf, wenn ich nicht mehr bei klarem Verstand bin!“, formulierte eine Nachbarin, die auf keinen Fall in ein Heim wollte. Einige Jahre später wurde aus der grauen Theorie konkreter Alltag. Damals, es war im Jahr 1993, fasste ein jüngerer Bewohner die Situation zusammen: „Innerhalb eines Jahres ist Annemarie (85) bereits das zweite Mal im Krankenhaus. Gertrud (93) lag lange Zeit im Krankenhaus und Else (81) lief von einem Arzt zum anderen“.

Alltag im Alter

Es war ein Jahr, in dem unsere Nachbarschaft einer echten Bewährungsprobe ausgesetzt war. Wir Jüngeren waren stark gefordert und mussten unseren Tagesrhythmus nach den Bedürfnissen unserer alten Nachbarn einrichten. Jürgen hat mit Annemarie zusammen gefrühstückt, zu Mittag gegessen und das Abendbrot gemacht. Er hat aufgepasst, dass sie rechtzeitig ihre Pillen nahm, viel Wasser trank und immer genügend Zuwendung bekam. Else bekam eine Hupe, damit sie sich im Notfall bemerkbar machen konnte, falls sie wieder einen Hustenanfall bekommen sollte. Ulrike hatte als direkte Nachbarin immer ein „großes“ Ohr und hat laufend nachgesehen. (Einmal war die Aufregung gross… alle im Haus hatten die „Hupe“ gehört und wir stürzten zum 3. Stock. Zum Glück war aber nichts passiert – Jürgen hatte auf seiner Trompete geübt!) Inge machte neben der Betreuung durch ambulante Dienste für Gertrud mittags das Essen warm, ging nachmittags zum „Klönen“ zu ihr und brachte sie abends ins Bett… Zeitweise hingen im Flur Arbeitspläne, damit wir nichts vergaßen. Wir machten Krankenhausbesuche, sprachen mit den Ärzten und den Angehörigen… Rückblickend betrachtet, gelang diese Nachbarschaftshilfe, die nur vorübergehend so intensiv nötig war, dank des harmonischen Zusammenspiels der Kräfte und der stundenweisen Betreuung durch einen Pflegedienst. Die Hilfe im Pantherhaus wurde in den 14 Jahren seines Bestehens übrigens nicht nur Älteren zuteil, auch den Jüngeren wurde bei Krankheit oder anderen Problemen zur Seite gestanden.

Vom Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen

Gute Voraussetzungen dafür, dass Nachbarschaftshilfe auf freiwilliger Basis, ohne Überforderung möglich wird, sind in erster Linie gegenseitiges Vertrauen, guter Kontakt mit Angehörigen und Vertrauenspersonen der Nachbarn, rechtzeitige Einbeziehung von ambulanten Diensten, geeignete bauliche und technische Rahmenbedingungen, das Wissen um wichtige Rechtsgrundlagen wie die Pflegeversicherung, das Betreuungs- und Sozialhilfegesetz. Und dennoch: Bei allem Knowhow, bei aller Geborgenheit und konkreten Nachbarschaftshilfe ist keine Gruppe gefeit vor Krisen, schwierigen Entscheidungen und schmerzlichen Erfahrungen. Die Grenzen des Machbaren werden deutlich, wenn überhöhte Erwartungen oder starke Animositäten in der Gruppe vorliegen, wenn auf Dauer das Gleichgewicht von Geben und Nehmen gestört ist, wenn starke psychische Veränderungen die Kommunikationsfähigkeit behindern oder keine ausreichende ambulante Versorgung möglich ist. Wer sich ein wenig mit den derzeitigen Bedingungen ambulanter Pflege auskennt, weiss, was bei knappen Ressourcen an Lebensqualitäten, an Zeit für Gespräche, Spaziergänge, Anregungen und andere menschliche Bedürfnisse auf der Strecke bleibt.

Thema mit Zukunft

Das Thema „Altwerden im Wohnprojekt“ wird in Zukunft für immer mehr Projekte an Bedeutung gewinnen. Einerseits, weil sich gerade Menschen im mittleren Alter verstärkt auf den Weg machen, um durch die Gründung eines Wohnprojektes einen selbstbestimmten „Alterssitz“ zu schaffen, um den Umzug in ein Heim zu vermeiden. Und andererseits kommen auch die Projektgruppen jüngerer Menschen irgendwann einmal in die Jahre.

Im „Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter – Bundesvereinigung e.V.“, in dem sich bundesweit Wohninitiativen älterer Menschen organisieren, werden die Chancen und Grenzen des Altwerdens in selbstorganisierten Projekten, die sich bewusst ausserhalb des betreuten Wohnens positionieren, verstärkt thematisiert. Bisherige Gruppenprozesse zeigen, dass eine frühzeitige Klärung individueller Erwartungen und kollektiver Belastbarkeit sowie eine sinnvolle Kombination von Selbst- und Fremdhilfe ratsam ist und im Rahmen der Entwicklung von Wohnprojekten nicht ausgeklammert werden kann.

Ulrike Petersen ist Gründungsmitglied des „Forum für gemeinschaftliches Wohnen im Alter – Bundesvereinigung e.V.“ und Mitbewohnerin des Pantherhauses in Hamburg.

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 6(2000), Hamburg