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Artikel Wohnprojekte Hamburg

„Hier wohnen nur Freaks“

Strese 100 hat den Traum vom gemeinsamen Wohnen verwirklicht

*** von Rainer Link ***

Nicht 5, nicht 10 sondern unglaubliche 15 Jahre hat es gedauert, bis das Wohnprojekt Strese 100 ein Dach über dem Kollektiv hatte. Anfang Juli rollten die Umzugswagen vor das sechsgeschossige Haus in der Stresemannstraße gegenüber der Eifflerstraße. Endlich. Für knapp 50 Leute – aufgeteilt auf 26 Wohnungen – beginnt jetzt das Experiment des gemeinsamen Wohnens.

Tanja hat eine Single-Wohnung im dritten Stock bezogen. Die Kostümbildnerin hat sich bewusst für das Alleinleben in den eigenen vier Wänden entschieden; gleichzeitig will sie in aktiver Nachbarschaft mit allen Mitgliedern der Hausgemeinschaft leben. 55 Quadratmeter – aufgeteilt auf zwei Zimmer plus Bad, Küche und separatem WC – das reicht für eine Person allemal. Als wir Tanja das erste Mal besuchen, ist es Mitte Juni und noch hängen Stromleitungen aus den Wänden und der eine oder andere Handwerker schaut vorbei, um letzte Arbeiten zu verrichten. Die Mitglieder des Wohnkollektivs Strese 100 haben sich bei der Wahl der Inneneinrichtung völlige Freiheit gelassen. So entschied sich Tanja für einen recht gediegenen Holzfußboden aus heller Eiche. Und auch die Einbauküche mit dem edlen Gaskochfeld kann kein Schnäppchen gewesen sein. Eine „Luxuskommission“ wird später die Sonderwünsche der einzelnen Wohnungsinhaber aufrechnen und „Sonderrechnungen für üppigen Wohnstil“ ausstellen.

„Wer sich solch ein Projekt ausdenkt, muss ein bisschen verrückt sein“

„Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, sagt Peter, von Beruf Architekt und einer der Initiatoren des Projekts. „Wir haben hier für Singles, für Familien und gleichzeitig auch noch für Wohngemeinschaften geplant. Unser jüngster Hauptmieter ist 19, unsere älteste Mitbewohnerin ist 82 Jahre alt – das zeigt die Spannbreite unseres Projekts.“ Jede der insgesamt 26 Wohnungen ist individuell geplant. Das kostete Zeit, Nerven und Geld. „Hier wohnen nur Freaks“, sagt Peter, „die schaffen das. Mit Normalo-Mietern hätten wir längst Bankrott anmelden müssen.“ Guten Rat in allen Fragen der Bauplanung, der Finanzierung, der Vertragsgestaltung und sogar der Gruppendynamik erhielten die Aktivisten der Strese 100 von den Profis von STATTBAU HAMBURG – einer Stadtentwicklungsgesellschaft, die sich auf die Baubetreuung von Wohnprojekten spezialisiert hat.

Gute Nerven brauchten die Mitglieder des Wohnprojekts von Anfang an. 1994 besuchten einige von ihnen die Finanzbehörde und baten die Liegenschaftsbeamten um ein Grundstück für ihr Projekt. „Mit fünf Jahren müssen sie schon rech nen“, wurden sie von den Beamten vertröstet. Nach acht Jahren bot man ihnen dann ein Traumgrundstück am Fischmarkt an. Das hätte optimal gepasst und alle Wohnträume wären in Erfüllung gegangen. Aber zu früh gefreut: In letzter Minute – der CDU-FDP-Schill-Senat hatte gerade das Ruder übernommen – verlangte die Stadt einen völlig unerschwinglichen Preis. Fischmarkt ade! (Damals sollten dort anstelle des Wohnprojektes Büroflächen entstehen. Bis heute ist auf dem Grundstück nichts passiert.)

Viele Mitglieder waren durch die lange Wartezeit genervt und einige sprangen ab und kamen woanders unter. Als die Behörde endlich 2006 das heutige Grundstück an der Stresemannstraße anbot, war die Gruppe geschrumpft, aber immer noch aktiv. Soll man wirklich an die Stresemannstraße ziehen? Ist das da nicht viel zu laut und schmutzig? Kommen da unsere Kinder sicher über die Fahrbahn? Keine leichte Entscheidung für die Gruppe.

Parterre mit Gartenblick

Adrian hat eine Parterrewohnung im Erdgeschoss bezogen: 55 Quadratmeter mit einer Terrasse zum Hinterhof. Auch ihm fiel die Entscheidung für das Wohnen an der Stresemannstraße nicht leicht, weiß er als Ex-Anwohner der benachbarten Kieler Straße doch aus leidiger Erfahrung, wie sich viel befahrene LKW-Pisten anhören. „Wir haben hier aber die Grundrisse der Wohnungen dem Lärmpegel angepasst“, erläutert Adrian. „Zur Straßenseite haben wir nur Bäder, Korridore und Küchen eingerichtet. Schlaf- und Wohnbereiche liegen hinten“. Und tatsächlich, auf die Frage, wie Adrians erste Nacht in der neuen Wohnung war, antwortet er knapp „Absolut ruhig und phantastisch, hab was Angenehmes geträumt, weiß aber nicht mehr was.“

Was kostet das Wohnen in der Strese 100?

„Die Finanzierung ist mehr als kompliziert“, sagt Peter. Zunächst mal musste jeder Mitbewohner 250 Euro pro Quadratmeter in die Genossenschaftskasse der „Wohnreform eG“ zahlen – macht bei einer Single-Wohnung rund 12.000 Euro. Das Geld kommt meist von Oma oder Opa“, verrät Peter. „Die Wohnungsbaukreditanstalt fördert das Wohnen, wenn die Mieter ein geringes Einkommen durch einen Wohnberechtigungsschein nachweisen können.“ Das war bei fast allen möglich, auch bei Tanja. 5,60 Euro kalt zahlt sie jetzt für den Quadratmeter. Das Gas wird über einen gemeinsamen Hauszähler abgerechnet und die Heizkosten werden auf die Wohnungsgrößen umgelegt. Gemeinschaftskosten für einen Treffpunkt im Parterre und für den Aufzug kommen noch hinzu. Alles in allem muss Tanja künftig wohl mit knapp 10 Euro pro Quadratmeter, also rund 500 Euro Gesamtmiete rechnen. Gute Nachbarschaft inklusive.

Tanjas Umzug war trotz Fahrstuhl kraftraubend, aber nun ist die Wohnung komplett eingerichtet. Von ihrem Balkon blickt sie in den Hinterhof, in dessen Mittelpunkt sich ein kleiner Kinderspielplatz befindet. Tanja ist rundum zufrieden, sie hat sich rasch eingewöhnt und mit den Nachbarn klappt‘ s auch. Allerdings, bei ihr im dritten Stock ist der Lärm der Stresemannstraße doch deutlicher zu vernehmen als in anderen Stockwerken. Die offene Zufahrt zum Hinterhof verteilt den Schall der Verkehrsströme recht unterschiedlich. Ein Architekt wird sich demnächst des Problems annehmen.

Rainer Link ist Journalist und unterstützt Mieter helfen Mietern bei der Öffentlichkeitsarbeit.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 15(2008), Hamburg