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Artikel Klimaschutz/Mobilität

Moderne Mobilitätskonzepte im Wohnungsbau

Zeitgemäße Folge geänderter Lebensstile oder Chancen einer neuen Stellplatzverordnung?

*** von Felicia Baatz, Markus Franke und Konrad Rothfuchs ***

In der jüngeren Vergangenheit kursierten viele Meldungen durch die Medien, die auf eine geänderte Einstellung zu den Verkehrsmitteln in der Generation der jungen Erwachsenen aufmerksam machten. Eine Abkehr vom privaten Pkw-Besitz und dessen Bedeutung für das persönliche Image hin zu multimodalen Mobilitäts stilen (d.h. mindestens zwei Fortbewegungsmittel werden miteinander verknüpft), insbesondere unter Einbeziehung von CarSharing, sind die Trends dieser Generation. Gibt es nach der Energiewende, deutlichen Veränderungen im Nahrungsmittelkonsum hin zu Bioprodukten nun eine dritte „grüne Welle“, die neue gesellschaftliche Maßstäbe setzt – im Verkehrsbereich? Dabei ist hervorzuheben, dass sich das großstädtische Umfeld hier als besonders dynamisch zeigt. Anm. der Redaktion: Aktuell wird in einigen Städten sogar die Aussetzung oder Abschaffung der Stellplatzverordnung diskutiert (z. B. Berlin, Hamburg) – eine Chance?

Beleuchtet man die alltäglichen Mobilitätsstile „typischer“ Großstadtbewohner stellt man fest, dass der private Pkw für das Zurücklegen der regelmäßigen Wege häufig nicht nötig ist (s. Studie Mobilität in Deutschland – MiD). In den urbanen Lagen in den Stadtzentren und Innenstadtrandgebieten kann von der Naherreichbarkeit aller wesentlichen Nutzungen ausgegangen werden – mit Ausnahme des Arbeitsplatzes.

Der Stellenwert von Stellplätzen

Interessant ist in diesem Kontext auch ein aktueller Befund aus der Sonderauswertung dieser Studie MiD für Hamburg, die die Lage im urbanen Umfeld (Dichte, Mischung) als entscheidend für die Verkehrsmittelwahl herausstellt. Darin wird eine Abweichung der Kfz-Nutzung in debefinierten urbanen Wohnlagen um ca. 35% gegenüber dem Durchschnitt nachgewiesen. Nur jeder dritte Weg wird mit Pkw zurückgelegt. Das lässt darauf schließen, dass in den entsprechenden Stadtlagen alle Personengruppen grundsätzlich zu den Zielgruppen autoarmen Wohnens gehören könnten – bis auf die Haushalte mit Personen, deren Arbeitsplatz nicht ohne erheblichen Zeitverlust im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV/ÖV) erreicht werden kann. Für die Gelegenheitsnutzer des Pkw kommt dagegen das geteilte Auto in Betracht.

Arbeitsplatz-Erreichbarkeit

Die Studie MiD 2008 untersuchte ebenfalls die subjektiven Einschätzungen der Erreichbarkeiten von Arbeitsplätzen (s.u. MiD). In Hamburg fallen die Bewertungen der Fahrrad- und der ÖV-Erreichbarkeit recht positiv aus. Hier liegen etwa zwei Drittel der Einschätzungen in den Kategorien „sehr gut“, „gut“ oder „einigermaßen“.

Insgesamt deuten die Daten darauf hin, dass in den erweiterten Innenstadtbzw. Innenstadtrandbereichen Hamburgs nur ein kleiner Teil der Haushalte durch zu schlechte ÖPNV-Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes aus der Zielgruppe für autoarmes Wohnen ausscheidet.

Perspektiven für den Wohnungsbau

Für den Wohnungsbau, der gerade in Hamburg einen enormen politischen Stellenwert hat, ergeben sich daraus neue Perspektiven im Hinblick auf die Zahl der herzustellenden Stellplätze sowie der alternativen Verkehrsangebote zur privaten Pkw-Mobilität. Das autoarme Wohnen scheint erhebliche Potenziale zu haben und könnte aus der Nische der „grünen Spinner“ in der Mitte der städtischen Gesellschaft ankommen – vergleichbar mit der Verbreitung von Solaranlagen. Die möglichen Vorteile sind durchaus vielfältig und umfassend.

Jeder geeignete Wohnungsbau könnte deutlich preiswerter werden. Aufwändige Tiefgeschosse oder flächenintensive Parkplätze schlagen sich teilweise erheblich auf die Baukosten und damit auf die Kauf- bzw. Mietpreise auf dem Wohnungsmarkt nieder. Darüber hinaus können auch die dem Bauprojekt anzulastenden Verkehrsinfrastrukturkosten im Umfeld, z. B. die Einrichtung einer Lichtsignalanlage, spürbar verringert werden.

Die späteren Bewohner werden zudem in der Regel deutlich geringere Mobilitätskosten haben als Autobesitzer.

Lebensstile, die weit weniger auf das Auto ausgerichtet sind als der Durchschnitt, tragen zu einer Entlastung des Straßennetzes bei – und damit zum Abbau gesundheitsgefährdender Emissionen in Städten. Interessant ist daran besonders, dass sich solche positiven Effekte für das Gemeinwohl durch politisch initiierte Erleichterungen forcieren ließen, die – zumindest auf den ersten Blick – „niemandem wehtun“ und nicht durch Verbote oder Beschränkungen.

Freiraumqualitäten werden möglich, die sich klar positiv abheben von herkömmlichen Wohnumfeldern, wenn große halböffentliche, wohnungsbezogene Räume ohne Autoverkehr entstehen.

Als potenzielle Nachteile ist auf Vermarktungshemmnisse wegen der befürchteten Einschränkung der Flexibilität oder die Verlagerung einer entstehenden Parkraumnachfrage in die Nachbarschaft hinzuweisen.

Der Rechtsrahmen in Hamburg

Wohnungsbauunternehmen, die die Chancen dieser Entwicklung erkannt haben, treffen in Hamburg auf eine im Ländervergleich gesehen wohlwollende, wenn auch nicht unbedingt optimale Vorschriftenlage. Die in der Fachanweisung „Notwendige Stellplätze und Fahrradplätze“ enthaltenen Vorgaben sind im vergangenen Jahr fortgeschrieben worden. Nach wie vor ist beim autoarmen Wohnen eine Reduzierung auf 0,2 Stellplätze je Wohneinheit möglich. Als Mindestanforderung an die Größe des Bauprojektes werden nur noch 10 Wohneinheiten genannt. Folgende Bedingungen müssen gem. Fachanweisung vom 7.6.2011 erfüllt werden:

  • Bewohner müssen in rechtlich bindender Weise auf eine Kfz- Nutzung verzichten
  • eine gute Erschließung durch ÖPNV muss gegeben sein
  • ein Konzept zur bewussten Vermeidung von Kfz-Nutzung ist vorzulegen, dieses enthält z. B. Car-Sharing, Bewohnertickets für den ÖPNV, optimiertes Fahrradparken… und muss die „begründete Vermutung“ zulassen, dass der Stellplatzbedarf sich dauerhaft verringert
  • eine Widerrufsregelung ist einzubeziehen

Autoarmes Wohnen kann auch als Teil eines größeren Bauprojektes durchgeführt werden, mit räumlicher Trennung zum „konventionellen“ Wohnen oder ohne. Damit ergibt sich faktisch die Möglichkeit, den Stellplatzschlüssel lagegerecht individuell zwischen 0,8 und 0,2 Stellplätzen/Wohneinheit auszutarieren.

Eine zentrale Rolle dürfte der verbindliche Kfz-Verzicht haben. Gerade die unbefristete, in der Regel gar nicht überschaubare Zeitdauer der Selbstfestlegung könnte auf Interessenten abschreckend wirken. Für Eigentümer entsteht hier ein Risiko, das subjektiv als sehr groß wahrgenommen werden kann. Ganz besonders an diesem Punkt ist die Politik gefragt. Das Land Berlin hat sich als erstes Bundesland in Deutschland komplett aus der Stellplatzbauverpflichtung verabschiedet und scheint der Entwicklung hin zu autoarmen Lebensformen noch stärkere Impulse zu geben. Mit 41% autoloser Haushalte ist Berlin laut Ergebnisbericht Mobilität in Deutschland im Ländervergleich führend. Warum limitiert man den Verzicht nicht zeitlich, z. B. auf 10 Jahre? Oder begnügt sich mit einem verbindlichen Mobilitätskonzept, das einem noch zu definierenden Qualitätsanspruch gerecht werden muss, und verzichtet auf die Verzichtserklärung?

Was ist neu?

Der jetzt möglich gewordene neue Ansatz besteht darin, dass das Wohnungsbauunternehmen nun Motor eines Wandels ist und autoarmes Wohnen als Angebotssegment für sich entdeckt und vermarktet. Und nicht mehr wie zuvor überzeugte „Autoverzichter“, die zunächst sich und dann einen Wohnungsbauprozess organisieren müssen. Bereits beim Erwerb städtischer Grundstücke kann autoarmes Wohnen die Konzeptqualität entscheidend erhöhen (wenn dies im Behördenhandeln entsprechend gewürdigt wird). Schließlich ist ein maßgeschneidertes Mobilitätskonzept zu entwickeln, das aus dem Verzicht einen Gewinn macht.

Eignungsprüfung für autoarme Wohnprojekte

Von Amts wegen wird der Nachweis über eine gute ÖPNV-Anbindung (nicht etwa eine sehr gute) gefordert. Die Analyse der ÖPNV-Anbindung kann in verschiedene Richtungen gehen, z. B. die Entfernung zum Schienenpersonennahverkehr oder die Bedienungshäufigkeit durch alle öffentlichen Verkehrsmittel, also explizit auch von Buslinien, ist entscheidend.

Über die amtlich geforderten hinausgehend sind weiterführende Analysen sinnvoll wie z. B. Erreichbarkeiten im Umfeld oder die Lage im Radverkehrsnetz.

Ein Mobilitätskonzept besteht aus unterschiedlichen Komponenten: CarSharing, Fahrradparken und der Einführung von Bewohnertickets.

CarSharing

Ein bedeutender Baustein ist die Nutzung des CarSharings für die nicht-alltäglichen Mobilitätsbedürfnisse. Unter Umständen ist die Nähe zu einer entsprechenden Station einfach nur darzustellen. Überzeugender dürften jedoch aktive Maßnahmen zum erleichterten Zugang sein, d. h. die Ansiedlung einer öffentlichen CarSharing Station (in der Tiefgarage oder vor dem Haus), eine Kooperationsvereinbarung mit einem CarSharing-Unternehmen, die ggf. auch eine Risikoteilung in der Startphase beinhaltet, die mögliche Nutzung von mind. 2 Pkw (verschiedene Fahrzeugtypen) und verbilligte Konditionen für Mieter (bspw. keine monatliche Grundgebühr).

Öffentliche Pkw, die ohne Stationsbindung funktionieren wie Car2Go, können ebenfalls als potenzielle Mobilitätsangebote benannt werden, wenn das Bauprojekt im entsprechenden Bedienungsgebiet liegt. Es ist jedoch fraglich, ob derartige Angebote für die hier angesprochene Zielgruppe und deren Mobilitätsbedürfnisse eine ebenso hohe Relevanz haben wie stationsgebundene Angebote mit wesentlich geeigneteren Preisstrukturen.

Fahrradparken

Auch die Parkraumgestaltung für den Radverkehr wird in der o.g. Fachanweisung als Möglichkeit explizit erwähnt. Die in der Weisung ohnehin enthaltenen Forderungen bezüglich der Menge von Fahrradparkplätzen können generell als nachfrage-gerecht eingestuft werden, eine weitere Erhöhung dürfte nur selten echten Zusatznutzen stiften. Eher ist die Qualität der Fahrradstellplätze interessant. Auch dazu gibt es einen amtlichen Standard (Bauprüfdienst), der jedoch lediglich Rahmenvorgaben formuliert und insofern ausführungsbedürftig ist. Ziel eines Mobilitätskonzeptes müsste es demnach das vorbildliche Erreichen oder die qualitative Übererfüllung dieses Standards sein.

Fahrradstellplätze sollten nach dem Bauprüfdienst leicht zugänglich, möglichst ebenerdig, ggf. mit Behelf (Aufzug u. a.) sein, den Eingängen zugeordnet, 50% innerhalb des Gebäudes (nicht über Garage erschlossen), abschließbare Räume vorsehen, Abstellanlagen für Besucher außerhalb des Gebäudes vorsehen und sind außerhalb zu min. 50% zu überdachen.

Zur Übererfüllung dieser Norm bieten bereits die genannten Prozentsätze Ansatzpunkte. Darüber hinaus können aber auch insbesondere Ausstattung und Handhabung die Fahrradnutzung erleichtern, z. B. durch einfache Zugangssysteme (Chipkarten), komfortable Tür- und Torbreiten, Einsehbarkeit der Anlagen u.a.

Bewohnerticket

Drittes genanntes Modul des Hamburgischen Rechtsrahmens ist das Bewohnerticket. Hierbei handelt es sich um eine Kooperation des Wohnungsunternehmens mit dem örtlichen Verkehrsbetrieb. Das Wohnungsunternehmen tritt als Großkunde auf und leistet ggf. Zuzahlungen, wodurch eine Vergünstigung für die Bewohner entsteht. Die Abwicklung erfolgt zentral über die Wohnungsverwaltung. In Hamburg gibt es zur Zeit kein Bewohnerticket. Entsprechende Diskussionen mit dem Hamburger Verkehrsverbund sind jedoch angelaufen. Die Tatsache, dass hiermit in der Fachanweisung eine in Hamburg nicht bestehende Angebotsform benannt wird, kann durchaus so verstanden werden, dass eine Entwicklung angestoßen werden soll.

In diesem Kontext ist auch die Möglichkeit zu erwähnen, dass das ÖPNV-Angebot der neuen Nachfrage entsprechend ausgehandelt und angepasst wird.

Weitere Bausteine eines Mobilitätskonzeptes

Über die vorformulierten Bausteine eines Mobilitätskonzeptes hinausgehend sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. In Frage kommen beispielsweise auch folgende Beiträge, die teilweise auch das Mitwirken anderer Akteure mit gleichgerichteten Zielen bedingen. So könnte z. B. das Angebot von Leihfahrrädern bzw. StadtRad-Stationen (ggf. künftig mit Elektromotor) unterstützend wirken, oder auf einer anderen Ebene angesetzt werden, indem Informations- und Kommunikationsangebote, die den Informationsund Organisationsbedarf zur Mobilität ohne eigenes Auto praktisch bündeln (z. B. Fahrplanauskünfte, Auslösen von Buchungen oder Fahrscheinerwerb u. a. per App), entwickelt werden.

Bedenkenswert ist auch die Flankierung autoarmer Projekte im Umfeld, z. B. indem ein Parkraumkonzept für das umliegende Quartier aufgestellt wird (das vielleicht ohnehin überfällig gewesen ist).

Fazit und Vision

Autoarmes Wohnen ist ein Angebot, das in die heutige und noch mehr in die künftige Stadtlandschaft passt wie Energiesparhaus und Bioladen. Es kann eine große Zielgruppe der Stadtbewohner ansprechen und Impulse für die Lösung wichtiger kommunalpolitischer Fragen geben. Insofern ist es bereits heute ein aufkommendes Handlungsfeld für die Wohnungsbauwirtschaft und sollte von Seiten der öffentlichen Hand bestmöglich gefördert werden, um es für die breite Masse interessant zu machen. Es erscheint dabei von zentraler Bedeutung, die Verzichtserklärung auf private Kfz in Frage zu stellen und auf die Machbarkeit von Lebensstilen ohne Auto zu vertrauen. Die dazugehörigen Angebote wie insbesondere das CarSharing sind nicht neu, die Organisation „alternativer“ Mobilität ist jedoch für jeden Standort individuell zu leisten bis übergreifende Regelungen und Erfahrungswerte vorliegen, die solche Prozesse weiter vereinfachen.

Für das Bau-/Projektentwicklungsunternehmen entsteht die Aufgabe, die autoarmen Wohnungen zu vermarkten. Angesichts der erzielbaren Vorzüge ist es sicherlich angebracht, den Zusatznutzen der Wohnungen hervorzuheben (s.o.), ohne die potenziellen Nachteile zu verschweigen.

Felicia Baatz, Markus Franke und Konrad Rothfuchs sind MitarbeiterInnen von ARGUS Stadt- und Verkehrsplanung.

QUELLEN:
Mobilität in Deutschland 2008: (MiD)
Ergebnisbericht und Sonderauswertung für Hamburg
Fachanweisung vom 7.6.2011:
„Notwendige Stellplätze und notwendige Fahrradstellplätze“, Hamburg
Bauprüfdienst 5/1996: Anforderungen
an Fahrradplätzen und Abstellräume für Fahrräder und Kinderwagen

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 18(2012), Hamburg