Kommunale Pflegedienste aus Angehörigen und Nachbar*innen
*** Dr. Florian Kiel ***
Durch den Pflegenotstand sind klassische Pflegedienste oftmals überlastet, eine angemessene Pflege der Menschen mit Bedarf ist vermehrt nicht mehr möglich. Genau hier springt die „QuartierPflege“ ein.
Worum geht es bei der QuartierPflege?
Laut Forsa-Umfrage vom März 2023 machen sich über 50 Prozent der Menschen große oder sehr große Sorgen für den Fall, einmal selbst pflegebedürftig zu werden. Studien prognostizieren eine Personallücke von bis zu 400.000 Pflegerinnen, die uns schon im Jahr 2030 fehlen werden. Das Modell QuartierPflege setzt diesem absehbaren Notstand stabile und gute Rahmenbedingungen für das Engagement von Nachbarinnen und Angehörigen entgegen, so dass Menschen mit Pflegebedarf trotzdem versorgt werden können. Sie erhalten die Fürsorge, hauswirtschaftliche Unterstützung und Grundpflege, die sie brauchen.
Die QuartierPflege zielt darauf ab, die pflegerische Grundversorgung über die Kommunen vor Ort sicherzustellen.
Das bedeutet: Kommunen fördern das Engagement von Nachbarinnen, um die Lücken zu schließen, die im aktuellen Pflegesystem entstanden sind.
Wie soll die QuartierPflege funktionieren?
Die QuartierPflege möchte eine kommunale pflegerische Grundversorgung aller ermöglichen.
Zwei Ziele sind dabei wesentlich: Erstens übernehmen Nachbarinnen einfache Pflegetätigkeiten und entlasten dadurch die Pflegefachkräfte und Angehörigen. Zweitens werden Menschen durch die QuartierPflege für den Pflege-Beruf angesprochen und so neue Fachkräfte gewonnen.
Wer steckt hinter der QuartierPflege?
Angestoßen wurde die QuartierPflege vom Verein Gesellschaft für Gemeinsinn e.V. aus Leipzig und ist nun ein bundesweites Programm mit zehn verschiedenen Projekten an unterschiedlichen Standorten.
Der Verein übernimmt zum einen die strategische Programmentwicklung, damit die Hauptziele und Instrumente
in der Umsetzung im Laufe der Zeit immer genauer und wirkmächtiger werden.
Dazu entwickelt der Verein etwa einen soziokulturellen Baukasten für die Mobilisierung von Nachbarinnen vor Ort. Von großer Bedeutung ist es, eine IT-Landschaft zu entwickeln, in der Nachbar*innen und Angehörige effizient mit klassischen Pflegediensten Einsatzplanungen koordinieren
können. Das setzt der Verein in den nächsten zwei Jahren mit dem Marktführer für IT in der Sozialwirtschaft Connext unter wissenschaftlicher Begleitung um.
Zum anderen koordiniert die Gesellschaft für Gemeinsinn die Projektumsetzung an den Standorten, damit Erfahrungsaustausch und Skalierung von Quartieren möglichst reibungslos funktioniert.
Aktuelle Kooperationspartnerinnen sind beispielsweise die Pflegeversicherung AOK Plus, die Verwaltungsgemeinschaft Rhinow, der Landkreis Landsberg, der Betreuungsdienst ABE Zuhause genauso wie lokale Kirchgemeinden, Ärzte und Nachbarschaftshilfen oder das Sozialamt.
An wen richtet sich die QuartierPflege und wer bezahlt?
Die QuartierPflege richtet sich an Menschen mit Pflegebedarf, ihre Angehörigen und die sie betreuenden Nachbarinnen.
Die QuartierPflege ist rechtlich gesehen ein ganz normaler ambulanter Pflegedienst. Dessen Leistungen für pflegebedürftige Personen werden aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert. Mit diesen Geldern werden die laufenden Kosten der QuartierPflege gedeckt. Menschen mit Pflegegrad
müssen daher nichts extra zahlen, sondern werden über die ihnen zugesprochene Sachleistung versorgt, die je nach Pflegegrad variiert. Dazu kommen Gelder aus Verhinderungspflege, Entlastungsbetrag oder bei Menschen mit Behinderungen auch aus dem persönlichen Budget.
Die Umsetzung des Programms, also des Aufbaus
von Wissen und Projektfähigkeiten des gemeinnützigen
Vereins wird über Fördergelder gewährleistet:
- Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz
(BMWK) - Bundesministerium für Bildung und Forschung
(BMBF) - Robert-Bosch-Stiftung
- Software AG – Stiftung
- Heidehof Stiftung
- etc.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Für die Organisation der anfallenden Aufgaben gibt es in jedem Quartier das Fall-Management der QuartierPflege. Dort werden Termine koordiniert, Einsätze von Nachbarinnen und Angehörigen geplant und zwischen allen Beteiligten vermittelt. Ein lokales Netzwerk aus drei bis sechs festen Nachbarinnen pro Fall entlastet die Angehörigen von Menschen mit Unterstützungsbedarf (ältere Menschen oder solche mit physischen oder psychischen Einschränkungen).
Die Nachbar*innen werden dabei durch das Fallmanagement koordiniert und fachlich begleitet. Etwaige benötigte professionelle Pflegekräfte kümmern sich um anspruchsvolle pflegerische Tätigkeiten und treten dem Netzwerk punktuell bei.
Wie lange gibt es das Projekt schon?
Seit 2018 wird an der QuartierPflege gearbeitet.
20 Kooperationspartnerinnen haben mitgeholfen die QuartierPflege zu dem zu machen, was sie heute ist.
Über 500 Vertreterinnen von Angehörigen-Verbänden, Nachbarschafts-hilfen, Kommunen, Pflegekassen, IT-Anbietern und Fachpolitiker*innen oder wissenschaftlichen Arbeitsgruppen haben das Programm geformt.
In 2019 wurde ein vorläufiges Modell getestet und 2021 begonnen, die QuartierPflege am Standort Leipzig zu testen. Seit 2024 pilotieren wir das Projekt auch im Landkreis Landsberg am Lech.
Die Gesellschaft für Gemeinsinn e.V. hat mit diesem Programm im Deutschen Pflegepreis 2023 den 2. Platz im Bereich Innovation belegt. Der Platz des Zukunftspreises des Verbandes der Ersatzkassen 2024 geht an die QuartierPflege. Drei weitere Auszeichnungen hat der Verein für das Programm bereits erhalten.
Hat die QuartierPflege schon woanders funktioniert?
Es gibt viele Ansätze in diese Richtung wie etwa Pflegestützpunkte, Buurtzorg, Gemeindeschwester, Nachbarschaftshilfen oder Seniorengenossenschaften.
Diese und weitere Ideen wurden durchgearbeitet, das, was nicht gut funktioniert hat, gestrichen. Die wirkungsvollen Elemente
wurden zu einem direkt umsetzbaren und finanzierbaren
Modell kombiniert, das auf der aktuellen Rechtslage aufsetzt: die QuartierPflege. Damit wird den Kommunen eine Antwort und ein Instrument an die Hand gegeben, wie deren grundgesetzliche Aufgabe einer Daseinsfürsorge im Bereich der Pflege umgesetzt werden kann.
Wie ist gewährleistet, dass genügend Nachbar*innen mitmachen?
Jeder Aspekt im Modell der QuartierPflege ist darauf gerichtet, die Wahrscheinlichkeit des Engagements von Angehörigen und Nachbar*innen zu erhöhen. Dies ist in zehn Rahmenbedingungen gebündelt. Je deutlicher und kompromissloser diese an den Standorten umgesetzt werden, desto mehr Menschen werden sich beteiligen.
Dazu gehören Entlohnung, professionelles Management, geringe Einstiegshürden und ein Gefühl von sozialer Teilhabe im vertrauten Quartier.
In dem Augenblick wo aus häuslicher Pflege sichtbare soziale Teilhabe in Quartieren wird, werden sich immer mehr Menschen angesprochen fühlen. Wir sind soziale Wesen und Pflege ist soziale Teilhabe, nur ein Teilbereich ist medizinische Behandlungspflege und die wird von klassischen Pflegediensten übernommen.