Interview mit
Tim Angerer, Staatsrat in der Behörde für Arbeit, Gesundheit,
Soziales, Familie und Integration (Sozialbehörde)
Die Stadt Hamburg setzt seit Jahren auf die Gestaltung demografiefester Quartiere.
Was würden Sie sagen, ist in Hamburg in diesem Feld für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf bereits gut gelungen?
Auch in Hamburg wächst die Anzahl alter Menschen mit Pflegebedarf, während die Anzahl der Pflegefachkräfte nicht in gleichem Maße steigt.
Immer mehr Menschen leben alleine. Zugleich wollen auch ältere Menschen mit Pflegebedarf solange wie möglich selbstbestimmt zu Hause, zumindest aber in ihrem vertrauten Quartier wohnen bleiben. Auf diese Entwicklung hat die Stadt bereits 2014 mit dem Demografie-konzept reagiert, dass wir in diesem Jahr zum Aktionsplan „Age friendly city – für ein altersgerechtes Hamburg“ weiterentwickelt haben. Ein Ziel ist die Entwicklung demografiefester Quartiere, die u.a. so gestaltet sind, dass ein Wohnen bleiben im Quartier möglich bleibt. Gute Beispiele für die Umsetzung des Ansatzes sind die Projekte „LeNa – Lebendige Nachbar-schaft“ der SAGA Unternehmensgruppe in Anlehnung an das Bielefelder Modell. Barrierefreie Wohnungen für Seniorinnen und Senioren sowie für Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf, Versorgungssicherheit durch einen Quartierspflegedienst und Begegnungsangebote sowie gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung fördern hier das Wohnen bleiben im Quartier.
Die vier (ab 2025 fünf) LeNa-Projekte für jeweils zwischen 70 und 90 Bewohnerinnen und Bewohner können Vorbild sein für die Umsetzung weiterer Projekte dieser Art. Aber auch andere Wohnungsbaugenossen-schaften, Stiftungen und Pflegedienst-
leister setzen Elemente dieses Ansatzes bereits um. Die Sozial-
behörde hat dazu ein Förderprogramm aufgelegt.
In Hamburg sind in den vergangenen Jahren aber auch mehr als 50 Wohn-Pflege-Gemeinschaften entstanden, die das gemeinschaftliche Leben auch für Menschen mit einem hohen Pflegebedarf und insbesondere Demenz ermöglichen. Hier haben wir mit der Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften und dem Kooperationsprojekt BIQ – Bürgerengagement für Wohn-Pflege-Formen im Quartier der STATTBAU Gemeinwohl gGmbH und der Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V. Begleitstrukturen
etabliert. Diese unterstützen die Wohnprojekte in ihrer Gründung und im Betrieb und tragen dazu bei, dass Selbstbestimmung und Teilhabe sicher-gestellt werden. Auch der Aufbau dieser Wohnformen kann durch die Investitions- und Förderbank sowie die Förderrichtlinie der Sozialbehörde unterstützt werden. Ein zentrales Anliegen ist zudem, die Menschen in den Bestands-
quartieren zu unterstützen. Immerhin leben mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen in ihrer eigenen Häuslichkeit, oft ausschließlich durch Angehörige oder einen ambulanten Dienst versorgt und unterstützt. Hier spielen neben den fast 500 Pflegediensten, den Tagespflegen und der Kurzzeitpflege auch Beratungsangebote wie die Pflegestützpunkte und das neu etablierte Pflegenottelefon, die vielen verschiedenen Angebote der Unterstützung im Alltag und das Lotsenprojekt Qplus Alter eine wichtige unterstützende Rolle.
Die Bundesregierung hatte bisher wenige konkrete Informationen zu ihren zukünftigen Plänen für eine Reform der Pflegeversicherung bekannt gegeben, auch in Bezug auf die Förderung „besonderer Wohnformen“. Nun liegt aber ein Referentenentwurf für das Pflegekompetenzgesetz vor. Welche Erwartungen haben Sie an die Bundesregierung in diesem Bereich? Und welche Maßnahmen auf Bundesebene halten Sie für notwendig, um eine angemessene Versorgungsstruktur für Menschen mit Pflegebedarf im städtischen Raum, wie beispielsweise in Hamburg, zu gewährleisten?
Wir stehen derzeit in der Langzeitpflege vor verschiedenen
Herausforderungen. Zum einen wächst die Anzahl pflegebedürftiger Menschen schneller als die Anzahl der Fachkräfte.
Daraus entsteht ein Fachkräftemangel, der dazu führt, dass Pflegeheime und ambulante Dienste an Kapazitätsgrenzen gelangen. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, für die wir sowohl auf Bundes-ebene als auch auf Landesebene und in den Einrichtungen selbst Lösungen finden müssen. Eine Stellschraube ist eine angemessene Bezahlung. Um den Pflegeberuf attraktiv zu halten, wurden die Tarife in der Pflege in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert. Das finde ich gut und richtig. Dies führt natürlich dazu, dass die Kosten für Pflegeleistungen in den vergangenen beiden Jahren noch einmal deutlich gestiegen sind.
Die Leistungen der Pflegeversicherung wurden in den letzten Reformen zwar immer angehoben, konnten die Preissteigerungen aber nicht ausreichend abfedern. Deutliche neue Leistungs-
verbesserungen in der ambulanten und stationären Pflege sind im Reformentwurf aber nicht vorgesehen. Besonders betroffen von den Kostensteigerungen sind die Wohn-Pflege-Gemeinschaften. Diese wurden durch die Reformen der vergangenen Jahre gegenüber dem Pflegeheim benachteiligt.
Allerdings will der Gesetzgeber mit der Einführung von sog. „stambu-lanten“ Wohnformen nun der Vielfalt Rechnung tragen, die sich zwischen dem klassischen Pflegeheim und der Pflege in der eigenen Häuslichkeit entwickelt hat. Diese Entwicklung halte ich für grundsätzlich sinnvoll, weil sie Flexibilität ermöglicht und alternative Versorgungsansätze fördert. Ob die Vorschläge aus dem Referentenentwurf in dieser Hinsicht zielführend sind, ist allerdings fraglich. Ziel muss es aus meiner Sicht auf jeden Fall
sein, dass auch die bisher etablierten Wohn-Pflege-Gemein-
schaften davon profitieren.
Wir begrüßen die vom Bund geschaffene Möglichkeit zur Erprobung neuer Quartiersansätze über den § 123 SGB XI „Gemeinsame Modell-vorhaben für Unterstützungsmaßnahmen und -strukturen vor Ort und im Quartier“. Hierüber können Land und Pflegekassen gemeinsam Quartiersansätze fördern, in Hamburg mit bis zu ca. 1,5 Millionen Euro jährlich. Letztlich brauchen wir hier über Modelle hinaus eine Verstetigung.
Nicht zuletzt halten wir einen stärkeren Fokus der Pflegever-
sicherung auf Präventionsangebote für einen wichtigen Schritt, zur Erhaltung der Lebensqualität der pflegebedürftigen Menschen ebenso wie zur Entlastung der Pflegekassen. Eine entsprechende Änderung ist in der Reform der Pflegeversicherung nun auch vorgesehen.
In Hamburg gibt es eine Vielzahl an Wohn-Pflege-Gemeinschaften, insbe-sondere für Menschen mit Demenz. Jedoch kämpft diese Wohnform zunehmend mit steigenden und kaum noch bezahlbaren Pflegekosten. Welche nächsten Schritte halten Sie für notwendig, um das Fortbestehen dieser Wohnform langfristig zu sichern? Und sehen Sie Möglichkeiten der Stadt Hamburg – des Amtes für Gesundheit – bestehende Wohn-Pflege- Gemeinschaften in dieser angespannten Lage noch stärker zu unterstützen?
Neben der Reform der Pflegeversicherung, für die der Bund verant-wortlich ist, sind auch die Stadt und die Kostenträger gefordert, die bisher etablierten Strukturen entsprechend weiterzuentwickeln. Dazu gehört die Entwicklung alternativer Betreuungskonzepte sowie neuer Finanzierungs-modelle für diese Wohnform. Ich hoffe, dass wir auch in den An-
hörungen zum Pflegekompetenzgesetz noch etwas erreichen.
Mit Blick auf die nächsten 15 Jahre, was wären aus Ihrer Sicht die nächsten wichtigen Weichenstellungen, um die Versorgungsstruktur für Menschen mit Pflege und Unterstützungsbedarf langfristig zu sichern und damit ein Wohnen bleiben im Quartier zu ermöglichen?
In Anbetracht unserer demografischen Entwicklungen und des Fachkräfte-mangels betrachten wir die Weiterentwicklung des skizzierten Ansatzes als dringend notwendig. Die Umsetzung von „Wohnen bleiben im Quartier“ ist insbesondere in einer Großstadt mit begrenzten Ausbauflächen aber eine Herausforderung. In der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe „Forum Quartiere“ haben Fachbehörden und Bezirksämter das „Wohnen bleiben im Quartier“ zu ihrem Schwerpunktthema gemacht. In einer von der Stadtentwicklungsbehörde in Auftrag gegebenen Studie „Wohnen bleiben im Quartier“ 1 hat die steg Hamburg (Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg mbH, Anm. d. R.) u.a. 70 Fokusräume in der Stadt identifiziert, in denen entsprechende Projekte umgesetzt werden könnten.
Derzeit wird eine gesamtstädtische Strategie zur Umsetzung von „Wohnen bleiben im Quartier“-Projekten entwickelt.
Beispielhaft wird die dafür notwendige integrierte Sozialplanung
bereits für den geplanten Stadtteil Oberbillwerder
unter Federführung des zuständigen Bezirksamts Bergedorf erarbeitet.
Unter Beteiligung der Sozialbehörde wurde der LeNa-Ansatz weiterentwickelt zu einem Anker im Quartier, welches als Quartierszentrum Angebote für viele verschiedene Zielgruppen bereithalten soll. Der Entwurf soll als Blaupause für weitere Quartiere dienen. Wenn wir „Wohnen bleiben im Quartier“ ernstnehmen, dann müssen wir aber auch Wege finden, wie dieser Ansatz in Bestandsquartieren umgesetzt werden kann.
Dazu müssen wir auch Pflegeinrichtungen und Servicewohnanlage dabei unterstützen sich ins Quartier zu öffnen und Ankerpunkte für das Quartier zu werden.
Vor allem aber müssen Bund und Länder Antworten auf den Fachkräfte-mangel finden, dafür sorgen, dass die Pflege bezahlbar
und wirtschaftlich bleibt, aber dennoch die Bedürfnisse und Bedarfe alter und pflegebedürftiger Menschen und ihrer Familien im Fokus stehen. Dazu muss der Pflegeberuf weiter aufgewertet und neue Fachkräfte gewonnen werden. Wir müssen aber auch einen Prozess unterstützen, der dazu führt, dass Pflegefachkräfte sich auf diejenigen Aufgaben konzentrieren können, für die ihre Expertise gebraucht wird. Die Flexibilisierung der Fachkraftquote, die wir in Hamburg für die Pflegeheime zum 1.11.2024 einführen, sowie das angekündigte Pflegekompetenzgesetz und die geplante bundesweite Vereinheitlichung der Standards für die Pflegehelferausbildung sind Schritte in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir uns aber auch weiterhin dafür einsetzen, Strukturen zu schaffen, die ehrenamtliches Engagement und Nachbarschaftshilfe noch stärker unterstützen.