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Artikel Wohnprojekte Hamburg

Selbstbestimmtes und selbstverwaltetes Leben

20 Jahre Drachenbau

*** von Simona Weisleder ***

Die Gründergeneration kommt in die Jahre. Nachdem es in der letzten Ausgabe der Freihaus Anlass gab, der WGJA zum 25., der Schanze zum 18. und STATTBAU zum 20. zu gratulieren, soll in dieser Ausgabe der Drachenbau St. Georg Wohngenossenschaft eG mit dem Wohnprojekt zwischen Koppel und Schmilinskystraße gratuliert werden. Drachenbau St. Georg ist eine Besonderheit: eines der ersten Selbsthilfe-Bauprojekte und die erste Häusergruppe, die sich damals mit Wohnungsneubau in die bis dahin „unerforschten“ Wirren der Wohnungsbauförderung wagte. Hier ein Bericht aus Sicht einer Bewohnerin.

Am 1. September feierte die Drachenbau St. Georg Wohngenossenschaft eG mit über 300 Gästen ihren 20. Geburtstag. 20 Jahre selbstbestimmtes und selbstverwaltetes Leben und Wohnen, das heißt:

5 Häuser mitten in St. Georg gehören UNS; und ein, für Innenstadt-Verhältnisse großzügiges, inzwischen super begrüntes Grundstück mit Sandkiste, Rutsche, Grillplatz, Kompostanlage, Lehmhaus, Bootsschuppen, Fahrradhäusern, Bolzplatz, Werkstätten, Pflaumen- und Kirschbäumen, Pfirsich- und Feigenbäumen, Stachelbeerbüschen und Holunderzweigen.

WIR haben diese 5 Häuser vor 20 Jahren gebaut, saniert, ausgebaut, umgebaut und halten sie instand. Das Grundstück ist in Erbpacht von der Stadt Hamburg an uns vergeben.

68 Menschen leben und wohnen hier zusammen im Alter zwischen 5 und 78 Jahren. Davon 5 Mädchen, 9 Jungs, 21 Männer und 30 Frauen.

Und unter 18: 14 Menschen, über 20: 11 Menschen, über 30: 4 Menschen, über 40: 15 Menschen, über 50: 16 Menschen, über 60: 3 Menschen. Mindestens 15 Kinder wurden hier geboren, zwei Menschen sind gestorben.

Der Nachwuchs: von klein auf selbst organisiert

Drachenbau St. Georg heißt auch unzählige selbst organisierte Kinderdienste mit leckerem Essen, Schulaufgabenhilfen, Reden und Fußball im Hof. Der erste Schwung der Kinder bzw. nun jungen Erwachsenen zieht im Herbst in ein von ihnen mit gegründetes Wohnprojekt am Hafen – PlanB. Wir „Alten“ sind gerührt und stolz auf „unsere“ Kinder und glauben, dass Drachenbau und unser gemeinsames Leben hier ihnen was Tolles für ihr Leben mitgeben konnte.

Die großen WGs vom Anfang sind verschwunden, wir haben Wohnungen umgebaut, Wände gezogen, wieder eingerissen, Küchen verlegt, Balkone gebaut, einen Fahrstuhl nachträglich eingebracht. All das haben wir immer gemeinsam diskutiert und entschieden. Wir haben unterschiedliche Wohnformen, von der Einpersonenwohnung, über Familien- wohnungen bis hin zu kleinen WGs.

Uns liebe Menschen sind ausgezogen, neue Menschen, die uns lieb geworden sind, kamen dazu, aber insgesamt haben wir ganz wenig Fluktuation für 20 Jahre gemeinsames Leben.

Drachenbau St. Georg heißt auch 20 Jahre Beschäftigung mit ökologischem und nachhaltigem Bauen und Wohnen, u.a. mit unseren Gründach, unserer Grauwassernutzungsanlagen, unsere Kompostbehälter, unsere Photovoltaik-Anlage auf der Schmi 6, vorwiegender Einkauf von Ökostrom, z. T. Nutzung von Gemeinschaftsautos.

Zeit und Energie für gemeinsame Diskussionen und Entscheidungen

Diese lange Zeit im Wohnprojekt bedeutet auch: vermutlich ca. 1.500 Stunden Plenum pro Erwachsenen – in der ersten Zeit alle 14 Tage und öfter, nun einmal im Monat (grob also 10 Jahre x 26 Plena + 10 Jahre x 12 Plena mal 4 Stunden im Durchschnitt macht 1.440 Stunden). Nach den vielen Jahren Erfahrung die wir jetzt haben, gibt es eine sehr gut funktionierende Struktur mit einer Plenumsvorbereitungsgruppe (3 Personen, die rotierend jedes Jahr wechseln), die Themen sammelt, strukturiert und auch den Abend leitet und dokumentiert.

Hinzu kommen rund 20 Mietenplena, um unsere Mieten nach Selbsteinschätzung fest zu legen und gemeinsam alle Kosten aufzubringen. Unser Mietenmodell „Jede/r zahlt was sie/er kann und will“ funktioniert immer noch. Viel diskutiert, immer wieder mit anderen Varianten abgewogen, scheint es nach wie vor zu uns zu passen. Es gehört Vertrauen, und sich (und die anderen) auch lassen können, dazu. Wir werden es immer weiter verfeinern und uns immer wieder auch darum streiten.

Rechnet man nach jedem Plenum und Mietenplenum grob noch mal 2 Stunden „Nachbesprechung“ in der benachbarten Kneipe im Geelhaus dazu, dann macht das weitere 800 Stunden und nimmt man pro Person mindestens 2 Getränke an, dann waren das ca. 800 Biere, Wein, Sekt oder Selters.

So gab es auch um die 7–10 Projektfahrten bei denen das ABC in Hüll zu unserer zweiten Heimat wurde und bei denen wir uns Zeit nehmen, schwierige Themen in Ruhe miteinander zu diskutieren, versuchen zu Lösungen zu kommen oder auch am Lagerfeuer sitzen und lustige Lieder singen.

Selbst organisiert und gemeinsam

Jährliches Highlight sind zwei Gartenwochenenden, wo wir alle den Hof aufräumen, Blumen pflanzen, Schuppen umbauen, Schaukeln aufstellen, Sandkistensand austauschen, Spielboote bauen, Laub fegen, Fenster streichen, den Gemeinschaftsraum endlich mal gründlich putzen, all die abgestellten irgendwie niemand gehörenden Sachen zum Sperrmüll tragen und gemeinsam ein großes Essen machen.

Selbst verwaltete Genossenschaft heißt unzählige ehrenamtliche Arbeitsgruppen: wie Finanzgruppe, Mietvertragsgruppe, Mietenplenavorbereitungsgruppe, Plenumsvorbereitungsgruppe, Versicherungsgruppe, Öffentlichkeitsarbeitsgruppe, Kinderplenumsgruppe, Gartengruppe, Instandhaltungsgruppe, Wochenendwegfahrvorbereitungsgruppe, Festvorbereitungsgruppe, Betriebskostengruppe… Darüber sind viele der hier lebenden Menschen eng eingebunden in den Alltag, die Gestaltung des Projekts und die Verantwortung für die Genossenschaft und die Häuser wird auf viele Schultern verteilt.

Durch unser großes Engagement, sind die Mieten vor allem im Vergleich zum boomenden Umfeld in St. Georg sehr niedrig. Im Schnitt beträgt z. Z. die Nettokaltmiete 4,39 € plus veranschlagte 2,35 € Betriebs- und Heizungskosten.

St. Georg im Wandel – Projekte im Wandel

20 Jahre leben und arbeiten wir vor Ort, engagieren uns in einem Viertel, in dem wir sicher allesamt einige Spuren hinterlassen haben. Mittlerweile haben sich weitere Genossenschaftsprojekte im Viertel angesiedelt, darunter die Grauen Panther am Hansaplatz, Ret Marut in der Soester Straße, die Semmelings in der Rostocker Straße und jüngst die Brennerei in der Brennerstraße. Auch St. GeorgerInnen, die nicht in Wohnprojekten leben, repräsentieren so genanntes alternatives Leben in vielen Gruppen, die sich mittlerweile im Viertel, z. T. auch im Umfeld des Einwohnervereins und der 1990 gegründeten Geschichtswerkstatt tummeln, darunter verschiedene drogenpolitische Initiativen, Zusammenschlüsse um den Hansaplatz, der Stadtteilchor Drachengold, die Vorstadtbühne St. Georg und die Bürgerinitiative „Ohne Mix is nix!“. Zahlreiche Chor- und Theateraufführungen zu den Themen Wohnen, Gesundheit und Arbeit in St. Georg und anderswo sind so entstanden. Viele von uns sind im Stadtteil aktiv geworden, betätigen sich als ElternrätInnen, beteiligen sich am Planungsprozess im Rahmen der Stadtteilentwicklung oder machen Undergroundmusik in der Bremer Reihe.

Dennoch, vieles haben wir nicht erreicht, im Gegenteil, in letzter Zeit schwimmen uns geradezu die Felle weg, denn das Viertel erlebt einen rapiden Wandel, und dies nicht immer in unserem Sinne. Die Heinrich-Wolgast-Schule ist auf die Grundschulklassen reduziert, die meisten Einkaufsläden für unsere Nahversorgung sind den Latte-Macchiato-Cafés gewichen, die Mieten außerhalb der Genossenschaften steigen und steigen, ganz abgesehen davon, dass viele Wohnungen inzwischen in Eigentumswohnungen umgewandelt, edelsaniert und zu privaten Quartieren für bestverdienende Singles geworden sind. Diese Entwicklung macht immer wieder deutlich, dass das Wohnprojekt keine Insel ist und es weiterhin Anlass gibt, sich einzumischen.

Drachenbau und St. Pauli Drachenbau

St. Georg heißt auch unzählige St. Pauli Spiele live am Millertor mit unserer kleinen aber stetig gewachsenen Fangruppe unterschiedlichsten Alters, mit Aufstieg in die 1. Bundesliga (als Krönung der 2:1 Sieg über die Bayern!), dann leider der Abstieg in die 2. und dann 3 lange Jahre Regionalliga miterleiden, bangen und nun der freudige Aufstieg wieder in den Profifussball! You’ll never walk alone!!! Drachenbau ist dabei!

Simona Weisleder hat sich durch den Einstieg vor 20 Jahren und die Erfahrungen bei Drachenbau entschlossen an der HfbK Architektur zu studieren und arbeitet nun seit 7 Jahren bei der ZEBAU (Zentrum für Energie, Bauen, Architektur und Umwelt) als angestellte Architektin.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 14(2007), Hamburg