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Wien – Wohnen in der Sargfabrik

*** von Margarete Havel ***

Wohnen, Kultur und Integration sind die Leitbegriffe des Wohn- und Kulturprojektes „Sargfabrik“ in Wien-Penzing. Das Wohnheim wurde von einer Gruppe Menschen initiiert, die mit ihren Wohn- und Lebensbedingungen unzufrieden waren. Das Konzept war so eıfolgreich, dass ein zweites Projekt “Miss Sargfabrik” gebaut wıırde.

Nach dem Vorbild der alten Genossenschaften kaufte eine Gruppe Menschen gemeinsam ein Grundstück mit einer alten Fabrik. Sie plante und errichtete auf eigenes Risiko ein Wohnprojekt. 1996 wurde die umgebaute ehemalige Sargfabrik von rund 120 Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Lebensformen und Kulturen bezogen. Neben den 73 Wohneinheiten entstanden großzügige Gemeinschaftsflächen, die Raum für Kultur und Kommunikation bieten. Nachdem die Zahl der Interessenten immer weiter Wuchs und in unmittelbarer Umgebung ein weiteres Grundstück erworben werden konnte, wurde 2000 ein zweites Projekt verwirklicht.

Mehr als ein Dach über dem Kopf

Die Wohneinheiten bieten qualitativ hochwertigen Raum zur Erfüllung der physiologischen Bedürfnisse nach Wärme, Licht, Ruhe und Rückzugsmöglichkeit. Die künftigen Bewohnerinnen waren Planerlnnen und Errichterlnnen. Aus diesem Grund wurden alle Entscheidungen mit einer langfristigen Perspektive getroffen. Vieles von dem, was kurzfristig Mehrkosten bedeutete, bringt langfristig Einsparungen und erhöhte Wohnqualität. Diese wird zur Lebensqualität, wenn soziale Bedürfnisse befriedigt werden können und Raum für Selbstverwirklichung vorhanden ist. Den rechtlichen Rahmen bietet ein Vereinsvertrag, der sowohl das Recht des Einzelnen wie auch die Ansprüche der Gemeinschaft sichern soll. Auf ökonomischer Ebene wurde der Weg der bestmöglichen Kosten-Nutzen-Optimierung gegangen und vertraglich ein sogenannter „Sozialausgleich“ vereinbart. Dieser garantiert auch Menschen in finanziellen Engpässen den Einzug und Verbleib im Wohnheim Sargfabrik.

Nachbarschaft und lntegration

Die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen, im Berufsleben stehenden Erwachsenen, Behinderten und alten Menschen sind nicht immer leicht „unter einen Hut zu kriegen“. Durch die räumliche Gestaltung der Wohneinheiten und des Freiraumes sind Begegnungsmöglichkeiten geschaffen worden. Die Transparenz der Wohneinheiten lässt Kommunikation von innen nach außen und umgekehrt zu. Der Rückzug wird zu einer bewussten Handlung. Jede Person entscheidet über Nähe und Distanz, Kommunikationsbereitschaft oder Rückzug. Funktionseinheiten, wie z.B Waschküche oder Erschließungswege sind Orte der Begegnung und damit Orte der Kultur: ein kleiner Tratsch im Vorübergehen, ein Film in der Waschküche, eine Ausstellung im Keller, eine Performance im Bad, … Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Im Laufe des nun fünfjährigen Miteinanders in der Sargfabrik haben sich ein soziokulturelles Netzwerk und viele Initiativen entwickelt, die auf eine Erleichterung des Alltags abzielen. So gibt es privates Car-Sharing, Einkaufskooperationen, gegenseitige Kinderbetreuung und vieles mehr.

Gemeinschaftseinrichtungen als Schnittstelle zum Umfeld

Die Art der Gemeinschaftsräume wurde einerseits durch die Wünsche der Gruppe bestimmt, andererseits durch das, was im städtischen Quartier fehlte. Leben ist Kultur, und Kultur lässt sich nicht statisch lokalisieren, sondern braucht Platz und Raum. Der Veranstaltungsraum wird für eigene Produktionen genutzt oder an Kulturschaffende vermietet. In den fünf Jahren Veranstaltungstätigkeit erreichte das Kulturzentrum einen hohen Stellenwert im Bezirk und ist unverzichtbarer Bestandteil der Wiener Kulturszene. Der Seminarraum eignet sich für Workshops, Symposien sowie Tagungen und ist Versammlungsort der BewohnerInnen. Das Badehaus ist das Herzstück der Anlage und bietet internationale Badekultur. Einrichtungen und Organisation des Badehauses sind so gestaltet, dass es der Ort für Kommunikation und Entspannung ist. Das Lokal ist ein Treffpunkt für alle, die hier wohnen oder hierher kommen. Die Küche des Lokals versorgt den Kindergarten und die Seminar-TeilnehmerInnen. Im Kindergarten werden über 50 Kinder im Alter von 2 bis l0 Jahren betreut, die teils aus der Sargfabrik, teils aus der Umgebung kommen.

Miss Sargfabrik hat einiges zu bıeten

Das architektonische Konzept „Landschaft im Haus“ führte zu Wohnungen mit fließenden Übergängen verschiedener Raumhöhen und selten rechteckigen Grundrissen. Dem Trend „Arbeit und Wohnen“ wird die “Miss” durch fünf Wohneinheiten im Erdgeschoss gerecht, die als „Home Office“ genutzt werden. Acht Kinder und Jugendliche haben hier in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft ein neues Zuhause gefunden, einige Wohnungen stehen Behinderten zur Verfügung. Ein Clubraum für Jugendliche, ein Bibliotheks- , Medien- und Leseraum, eine Gemeinschaftsküche mit Essplatz und eine offene Waschküche komplettieren das Raumangebot. Bei frühzeitiger Anmeldung können BesucherInnen der Sargfabrik auch eine Gästewohnung buchen.

Die Sargfabrik in Wien-Penzing ist nicht nur ein ungewöhnliches Projekt, sondern auch das größte selbstinitiierte und selbstverwaltete Wohn- und Kulturprojekt Österreichs. Viele BesucherInnen wurden schon durch die Anlage geführt und erkundigen sich mit besonderem Interesse nach dem sozialen Gefüge, der Offenheit und der Bewährung in der Praxis. Die Sargfabrik versucht Antworten auf brennende Fragen der heutigen Zeit zu geben und stellt sich einem fortdauernden Experiment.

Aktuelle Informationen über das Kulturangebot sind auf der homepage www.sargfabrik.at zu finden. Für diesen Beitrag wurde auf ein Referat von Ute Fragner, Mitinitiatorin der Sargfabrik, zurückgegriffen.

Margarete Havel ist Wohnbau- und Marktforscherin. in Wien, seit 1992 im Vorstand des Österreichischen Wohnbund

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 8(2002), Hamburg