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Wohnen bleiben im Quartier

*** Prof. Dr. Thomas Klie ***

Die Wünsche und Präferenzen der Bevölkerung sind darauf gerichtet – das machen alle Befragungen immer wieder deutlich – auch im Alter und mit Blick auf eine mögliche Verwiesenheit auf Hilfe anderer in der vertrauten Umgebung wohnen bleiben zu können.

In den Städten sind es die Quartiere und Stadtteile, in ländlichen Regionen das Dorf. Den meisten gelingt es auch, bis zu ihrem Lebensende und
im hohen Alter, in der für sie vertrauten Umgebung wohnen zu bleiben. Es zeigt sich viel Kreativität, eine enorme Solidaritätsbereitschaft, aber auch Resilienz – sowohl von Familien, aber auch von Nachbarschaften in der Sorge füreinander. Eine der Herausforderungen besteht darin, dass sich diese örtliche Sorgebereitschaft auch auf besonders vulnerable
Gruppen erstreckt und auf jene, die tendenziell von Ausgrenzung bedroht sein könnten. Gerade in Dörfern und Quartieren, in denen eine hohe Mobilität zu beobachten ist, bisher unbekannte Menschen hinziehen,
sich die Bevölkerungszusammensetzung deutlich verändert, wird man in die soziale Architektur investieren müssen – Quartiersmanagement
ist eine der möglichen und oft gefragten Investitionen.
Eine weitere große Herausforderung besteht darin, ein fachliches Back-up für die Versorgung vor Ort zu gewährleisten. Die Bevölkerung ist in Sorge, dass das Gesundheitssystem erodiert. Die Qualität der Versorgung hängt immer stärker davon ab, wo man lebt. Ob die hausärztliche oder
die fachpflegerische Versorgung: Sie ist ein wichtiger Vertrauens- und Stabilitätsanker für das Wohnen im Quartier und Dorf.
Wir befinden uns mitten im Prozess der Weiterentwicklung und Reorganisation des Gesundheitswesens und der Pflege. Die klassische Hausarztpraxis gibt es in bestimmten Regionen Deutschlands kaum mehr – zumindest hat sie keine Zukunft, wenn es um die flächendeckende Versorgungssicherheit geht. Insofern sind neue Versorgungskonzepte
gefragt – von Medizinischen Versorgungszentren (MVZs), regionalen Gesundheits- und Pflegekompetenzzentren bis zu Gesundheitsregionen.
Auch wird man planerisch wesentlich mehr Einfluss zu nehmen haben auf eine medizinische und fachpflegerische Grundversorgung. Gesundheitskioske, Angebote der Telemedizin und -pflege, auch sie
gehören zu den Bausteinen einer künftigen gesundheitlichen
Versorgung, die ein Wohnenbleiben im Quartier oder Dorf möglich macht. Eine dritte große Herausforderung besteht in kultureller und psychologischer Hinsicht. Wohnen kommt etymologisch
von dem mittelhochdeutschen Wort „Wonne“, das so viel heißt wie in Übereinstimmung mit sich und der Umwelt, also in Frieden zu leben. Möglicherweise ist das Festhalten an Wohnvorstellungen, die man in seinem Lebenslauf entwickelt hat, bisweilen ein Hindernis für ein gutes Leben im Quartier und Dorf. Das Haus wird zu groß, Barrieren behindern die Mobilität. Wir Gerontologen sprechen gerne von der Plastizität, wenn es darum geht, die Voraussetzungen für lebenslanges Lernen zu beschreiben.
Die Neurologen bestätigen: Bis ins höchste Lebensalter, bis zum Tod sind wir lernfähig. Gerade im Alter haben wir uns mit neuen Situationen auseinanderzusetzen – möglicherweise Krankheiten, veränderten Umwelten, Partnerverlust, neuer Bedeutung von Technik. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass eine ganze Nation binnen recht kurzer Zeit in der Lage ist, das „Zoomen“ zu erlernen. Für die häusliche Versorgung wird die Telemedizin und -pflege eine weitere Lernnotwendigkeit schaffen.
Die schwierigste Lektion im Leben eines auf Autonomie bedachten Menschen ist die Akzeptanz von Hilfe. Sie ist Voraussetzung dafür, auch unter Bedingungen von Vulnerabilität ein gutes Leben führen zu können. Und das verlangt gegebenenfalls auch die Akzeptanz, die Wohnsituation zu verändern. Im Quartier wohnen bleiben heißt nicht notwendigerweise in meiner angestammten Wohnung zu bleiben. Dabei geht es um schwierige Entscheidungen. Die soziale Plastizität ist bei uns Menschen am geringsten ausgeprägt. Gehören doch soziale Nachbarschaft, Gewohnheiten, biografisch besetzte Orte mit zu dem, was uns psychologisch Sicherheit stiftet. Die meisten werden in ihrer Wohnung bleiben können, aber nicht alle. Wenn wir uns aktiv mit dem Thema Wohnen im Quartier (und Dorf) auseinandersetzen, müssen wir Alternativen des Wohnens für die Menschen schaffen, die in ihrer angestammten Wohnung „behindert“ werden: etwa durch Treppen in ihrer Mobilität in einer Weise einge-schränkt sind, dass sie nicht mehr am Leben der Gemeinschaft teilnehmen können. Manchen wird auch die Wohnung zu teuer und zu aufwändig – oder das Haus. Andere fühlen sich fremd in ihrer alten Wohnung. Für eine Reihe von Menschen sind kollektive Wohn- und Lebensformen interessant und möglicherweise besser als eine möglicherweise von Isolation und Einsamkeit geprägte Wohnsituation. Hier ist die Stadtentwicklung gefragt, hier braucht es Angebote gemeinschaftlichen Wohnens, aber auch für besonders vulnerable Bürgerinnen und Bürger ambulant betreute Wohngemeinschaften, die gerade für Menschen mit Demenz eine wichtige Option darstellen können, wenn es darum geht, im Quartier und Dorf mit den vertrauten sozialen Bezügen wohnen bleiben zu können. Aber nicht nur die Stadtentwicklung und die Wohnungswirtschaft sind gefragt. Die produktive Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnen im Quartier ist auch ein Bildungsthema. Der Umgang mit den An- und Herausforderungen im Lebenslauf – gerade im Alter hat etwas mit Lernen zu tun. So sind Bildungsangebote eine der Bausteine dafür, dass ein Wohnen im Quartier und Dorf auch in einer innovativen Art und Weise gelingen kann. Und schließlich wird es darauf ankommen, dass verlässliche professionelle Strukturen verfügbar sind: als Back-up, als Notanker, als sicherheitsstiftende Struktur. Hier helfen Digitalisierung und Technik. Hier sind informelle Sorgenetzwerke nachbarschaftlicher Art von großer Bedeutung. Aber hier sind auch Strukturen professioneller Art gefragt, auf die man im Notfall zurückgreifen kann. Nicht die Notaufnahme im Krankenhaus ist Lösung, sondern möglicherweise ein Pflegenottelefon und eine pflegerische (Not-)Unterstützung.
Mit dem hier skizzierten Wunschbild „Wohnen im Quartier“ werden nicht nur Präferenzen aufgegriffen, sondern auch Handlungsaufforderungen verbunden, die ein konzertiertes Bemühen auslösen (sollten): Die Kommunen sind gefragt. Die Zivilgesellschaft ist es, auch die Wohnungsbaugesellschaften sowie die Träger von Einrichtungen und Diensten, die ihren Beitrag dazu zu leisten haben, dass die gesundheitliche Versorgung der Gesamtbevölkerung ebenso gesichert bleibt wie die soziale Zugehörigkeit. Von Caring Communities sprechen wir in diesem Zusammenhang. Die Befürchtung vor einer Erosion des Gesundheits-wesens und der pflegerischen Versorgung, die in der Bevölkerung verbreitet ist, macht deutlich, dass es sich beim Thema Wohnen im Quartier unter Bedingungen von Vulnerabilität auch um ein im hohen Maße politisches und demokratierelevantes Thema handelt. Das Vertrauen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber auch die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens ist im hohen Maße verbunden mit dem Vertrauen in unser System und die Demokratie (vor Ort).