Das Modellprogramm AGIL
*** Dr. Romy Reimer ***
Der Soziologe Ulrich Beck legte 1986 eine Analyse des beschleunigten Strukturwandels der westlichen Gesellschaft vor und prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Risikogesellschaft. Er beschreibt, wie sich durch eine zunehmende Individualisierung gesellschaftliche Organisationsformen wie Klasse, Familie, Geschlechterrollen und Beruf grundlegend verändern und globale Risiken entstehen, denen alle Individuen
gleichsam ausgesetzt sind.
Diese Risiken entstehen im Zeichen der gesellschaftlichen Produktion von Reichtum und sind unabhängig von Status und Staatsgrenzen (obgleich die Ressourcen mit ihnen umzugehen bzw. Maßnahmen zu ergreifen territorial/regional/lokal unterschiedlich ausfallen).1
Die Analyse Becks ist aktueller denn je, angesichts des Klimawandels, reeller Gefährdung durch Waffensysteme und Cyber-Attacken oder jüngst, der Corona-Pandemie mit Lieferengpässen und Kostensteigerungen, aber auch im Hinblick auf die aktuelle Krise bestehender Care-Arrangements.
Der voranschreitende Wandel sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Institutionen hat zu einer Abnahme sozialer Bindungen bzw. deren Ver-bindlichkeit geführt. Lebensstile und Beziehungsformen haben sich diversifiziert (mehr Singles, kinderlose Paare, Alleinerziehende, Patch-workfamilien usw.) wobei die familiäre Sorge zurückgegangen ist. Es fehlt zunehmend an belastbaren Care-/ Sorgebeziehungen, die Menschen in vulnerablen Lebensphasen stützen oder tragen.
Care in der Krise
Die hier skizzierten Entwicklungen treffen auf die Effekte des demo-grafischen Wandels, insbesondere mit Blick auf die das Rentenalter erreichende „Babyboomer-Generation“. Der unter der Leitung von Prof. Thomas Klie entstandene DAK Pflege-Report 20242 markiert die Eckpunkte einer sich stetig zuspitzenden Pflegekrise, die, aus Sicht der
Expertinnen, die Funktionsfähigkeit der sozialen Pflegeversicherung grundlegend gefährdet. Während die Anzahl der Pflegebedürftigen in den kom- menden Jahrzehnten weiter wächst – etwa 2,3 Millionen mehr Menschen mit Pflegebedarf sollen es Klie zufolge in den nächste 25 Jahren sein –, sinkt die Zahl der Pflege-Fachkräfte signifikant, da viele das Renteneintrittsalter erreichen oder frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden möchten. Der DAK-Report errechnet, dass in den nächsten zehn Jahren in nahezu allen Bundesländer 20 Prozent des Pflegepersonals ersetzt werden muss. On top kom- men steigende Kosten in Verbindung mit sinken- den Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung, infolge des Rückgangs des Erwerbspersonenpo- tenzials sowie ein Rückgang familiärer Pflege. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen betreffen die Bürgerinnen – spätestens dann, wenn sie selbst auf ein funktionierendes System von Hilfe, Assistenz und Pflege angewiesen sind. Sie betreffen den Staat mit seiner zentralen Aufgabe Güter und Dienstleistungen bereitzustellen, die
für ein menschliches Dasein notwendig sind – eine Aufgabe, die hierzu-lande in großen Teilen der kommunalen Selbstverwaltung/Daseins-vorsorge zugeordnet ist.3 Und sie betreffen zivilgesellschaftliche Organisationen, die zwischen Staat und Markt agieren und auf Bedarfe jenseits dieser Distributionssysteme reagieren.
Der gesellschaftliche Wandel erfordert neue Formen sozialer Organisation, damit das Subsidiaritätsprinzip im Kontext
der Pflege- und Versorgung wirksam bleiben kann. Gleichzeitig muss das System der Pflegeversicherung so reformiert werden, dass quartiersnahe Wohn- und Versorgungsformen im Sinne der Caring Communities finanziell gefördert werden.
Die Caring Community als Chance
Bereits der 7. Altenbericht zur „Sorge und Mitverantwortung der Kommune“ betonte die Bedeutung sorgender Gemeinschaften für postmoderne Gesellschaften und forderte Kommunen dazu auf,
die „kleinen Lebenskreise“ zu fördern und zu stärken.4 Kommunen fällt dabei die wichtige Rolle zu, Bedarfe zu erfassen, lokale Ressourcen zu aktivieren, Akteure aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen und eine kooperative und koproduktive Praxis zur Entwicklung lokaler Ansätze und Strategien moderierend, begleitend und steuernd zu unterstützen. Was eine Caring Community im besten Falle ist,
verdeutlich die Definition des Schweizer Branchenverbands der Dienstleister für Menschen im Alter (CURAVIVA). Dort heißt es:
„Caring Communities oder Sorgende Gemeinschaften stehen für das Konzept einer gemeinsam geteilten Verantwortung für eine gute Lebensqualität und ein tragendes Beziehungsnetz von und für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Es geht darum, eine Haltung der Wertschätzung und Anteilnahme zu entwickeln und Strukturen zu schaffen, die ein dichtmaschiges Netz an Unterstützungsleistungen sichern.“ 5
Hier angesprochen ist eine neue Verbindlichkeit auf Basis einer neuen Solidarität, die auch Klie adressiert, wenn er schreibt:
„Wir als immer älter werdende Gesellschaft benötigen Modelle ,geteilter Verant-wortung‘, die intelligente Verschränkungen von professioneller Pflege, informeller Sorge und zivilgesellschaftlicher Initiative ermöglichen – wie etwa in ambulant betreuten Wohngemeinschaften praktiziert.“ 6
Damit Pflege und Care/Sorge zukünftig sichergestellt werden können, braucht es verbindliche Strukturen und Organisationsformen,
ebenso wie Kooperationen auf unterschiedlichen Ebenen. Akteure aus Politik, Verwaltung, Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft sind gefordert, neue Wohnund Wohn-Pflege-Formen partnerschaftlich, kooperativ und koproduktiv mit einer ganzheitlichen (nachhaltigen) Perspektive zu entwickeln.
Das Modellprogramm AGIL
Diese Notwendigkeit greift das Modellprogramm
„AGIL – Altersgerecht, gemeinschaftlich und inklusiv leben“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren Frauen und Jugend auf. Es fördert neue Wohnformen und Begegnungsorte, die die Selbstbestimmung und Teilhabe beim Wohnen, z.T. auch mit Hilfe moderner Technologien stärken. Ein Beispiel ist das genossenschaftliche Wohnprojekt „Unterjesingen.gut.leben – in jedem Alter“, das zur Förderung im neuen Modellprogramm AGIL – Altersgerecht, gemeinschaftlich und inklusiv leben ausgewählt wurde. Es wurde in einem mehrjährigen Beteiligungsprozess mit einer aktiven Bürgerschaft als neue Mitte im Dorf entwickelt. Es soll ein Neubau mit 16 barrierefreien Wohneinheiten, eine angehörigenverantwortete ambulant betreute WG mit acht Plätzen, zwei Wohnungen für Pflege-/Betreuungs-kräfte und einer Hausarztpraxis entstehen. Die auf dem Grundstück befindliche denkmalgeschützte Scheune aus dem 17. Jahrhundert wird der zukünftige Bürgertreff und Veranstaltungsort werden.
Bund, Länder und Kommunen tun gut daran, die Entstehung solcher Projekte auf verschiedenen Ebenen zu fördern, insbesondere angesichts der kostentechnisch äußerst erschwerten Rahmenbedingungen. Denn gerade im Feld der neuen Wohnformen und des gemeinschaftlichen Wohnens entstehen stark nachgefragte Wohnangebote und Wohnumfelder, die die soziale Teilhabe von Menschen mit Assistenz und Pflegebedarf, mit Langzeiterkrankungen oder auch mit Behinderung gewährleisten und Vereinsamungsprozessen entgegenwirken.
Die für AGIL in einem ersten Schritt ausgewählten 14 Modellprojekte stehen für eine Vielfalt von Ansätzen und Ideen, die die unterschiedlichen lokalen Bedarfslagen auch erfordern.
Vorhaben wie die „Alte Schule Uebigau“ im ländlichen Brandenburg, das inklusive, solidarische „Haus für Alle“ in der Münchener Metzgerstraße, das genossenschaftliche Wohn- und Lebensprojekt Wohngut Schönteichen in einem sächsischen Dorf oder auch die „Seebronner Stub“ als Ort für Begegnung und Betreuung in Baden-Württemberg, begegnen den aktuellen Herausforderungen in den Bereichen Pflege/Betreuung, Bauen und Daseinsvorsorge mit nach-haltigen und ressourcenschonenden Konzepten, die es angesichts der Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels dringender denn je braucht.
Der Auswahlprozess für AGIL hat gezeigt, dass es viele wünschenswerte Initiativen mitförderungswürdigen Konzepten gibt. Woran es seit Jahren fehlt, sind passende reguläre und unbürokratische Förderformen für diese häufig von großem bürgerschaftlichem Engagement getragenen, zukunftsorientierten Projekte.
1 Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp Verlag.
2 Vgl. Klie, Thomas, DAK-Gesundheit (Hg.): Pflegereport 2024. Die
Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – Beruflich Pflegende im
Fokus.URL.: https://caas.content.dak.de/caas/v1/media/64750/
data/42a02e597e07646cc80c0ddbd1382a8f/dak-pflegereport-
2024-ebook.pdf (Zugriff 13.09.2024)
3 Vgl. hierzu die Forderungen der BAGSO nach mehr und einer
rechtlich klar zugewiesenen „Steuerungs- und Gestaltungverant-
wortung für Altenhilfe und Pflege“ auf kommunaler Ebene. Vgl.
bagso Positionspapier 05/2023: Sorge und Pflege. Neue Struktu-
ren in kommunaler Verantwortung. URL.: https://www.bagso.de/
publikationen/positionspapier/positionspapier-sorge-und-pfle-
ge/ (Zugriff. 13.09.2024)
4 Vgl. BMFSFJ 2017, Siebter Altenbericht. Sorge und Mitverant-
wortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähi-
ger Gemeinschaften. Online unter: https://piko.link/x (Stand
13.09.2024).
5 CURAVIVA https://www.curaviva.ch/Fachwissen/Caring-Com-
munities/P7Cpw/ (Zugriff 11.09.24)
6 Klie, Thomas a.a.O.