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Artikel Rechtsform/Genossenschaft Wohnungspolitik

Wohnprojekte und Neue Genossenschaften

Eine Erfolgsgeschichte in Hamburg

*** von Josef Bura ***

2012 ist das internationale Jahr der Genossenschaften, ausgerufen von der UNO. In der entsprechenden Begründung führt deren Generalsekretär Ban-Ki Moon an, dass die Besonderheit von Genossenschaften darin bestehe, „Wirtschaftlichkeit und soziale Verantwortung“ miteinander zu verbinden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in diesem Jahr überall Feste gefeiert und Denkreden gehalten werden. Dabei wird das Loblied auf die Genossenschaftsbewegung gesungen. FreiHaus tut das auch – allerdings mit Blick auf die vielen jungen Wohnungsgenossenschaften, die im Kontext mit der Wohnprojektebewegung in Hamburg entstanden sind und ihre Potenziale.

1885 wurde in Hamburg die Schiffszimmerergenossenschaft gegründet. Sie ist die älteste Hamburger Wohnungsgenossenschaft und gehört in die erste Gründungsphase von Genossenschaften. Es folgte nach dem 1. Weltkrieg die große Zeit der Genossenschaften in der Weimarer Republik, als sie mit eigenen Bibliotheken, Wäschereien, Bildungseinrichtungen, Freizeit- und Sportangeboten über ihre Kernaufgabe hinaus ihren Mitgliedern vielfältige Angebote der Versorgung machten. Nach der Zerschlagung der Genossenschaftsbewegung im Nationalsozialismus beteiligten sich Genossenschaften in der Nachkriegs phase in einer dritten Gründungswelle am Wiederaufbau und der allgemeinen Wohnraumversorgung. Insbesondere in den wachstumsstarken Jahren wurden sie zu relevanten Akteuren auf dem Wohnungsmarkt in Hamburg. Heute sind sie zusammen genommen so stark wie die stadteigene SAGA/GWG und haben rund 130.000 Wohnungen, d. h. ca. 20% aller Mietwohnungen der Hansestadt in ihrem Bestand.

Neue Wohnformen entstehen – neue Genossenschaftstypen auch

In der 2. Hälfte der 80er Jahre entstehen neue Genossenschaften als Trägerstruktur für Wohnprojekte. Reagiert haben damals Akteure auf Hausbesetzungen und den Erhalt von abrissgefährdeten Gebäuden. Mit „Drachenbau St. Georg Wohngenossenschaft eG“ und der „Wohnungsbaugenossenschaft Schanze eG“ wurden Träger gegründet, die in diesem Jahr ihr 25jähriges Bestehen feiern. Beide stehen für unterschiedliche Genossenschaftskonzepte. Die „Drachenbau St. Georg“ ist eine Genossenschaft, die von Menschen initiiert und bis heute getragen wird, die für sich selbst Wohnraum erstellt haben. Im boomenden Stadtteil St. Georg sind sie nun schon seit einer Generation ein Hort genossenschaftlicher Selbstverwaltung, abgeschottet gegen den dort explodierenden Immobilienmarkt.

Die „Schanze“ hingegen wurde von Profis aus dem Umfeld der damaligen Wohnprojektebewegung gegründet, um Menschen in besetzten Häusern ein Leben in selbstorganisierten und selbstverwalteten genossenschaftlichen Wohnformen zu ermöglichen. Heute verfügt sie über 325 Wohneinheiten (davon 243 in Wohnprojekten und 82 Mietwohnungen) und bildet das Dach, unter das 18 selbstorganisierte Wohnprojekte in ganz Hamburg geschlüpft sind. Deren letztes Bauvorhaben liegt in Wilhelmsburg, ist gleichzeitig ihr größtes und erst im Frühjahr bezogen worden. Das Modell der Schanze eG nennt man in Hamburg „Dachgenossenschaft“. Sie ist damit ein besonderer Genossenschaftstypus und offen für weitere Projekte und BewohnerInnen, die mit hohem (auch finanziellen) Engagement genossenschaftlich eingebunden leben möchten und Selbstverwaltung ihres Wohnprojekts realisieren, jedoch aus vielerlei Gründen auf die Gründung einer eigenen Genossenschaft verzichten möchten.

Ein dritter Genossenschaftstypus ist die „Mieter(selbstverwaltungs)genossenschaft“. Eine der bekannteren in Hamburg ist die „Mietergenossenschaft Falkenried-Terrassen eG, die angrenzend an Hamburg Eppendorf ein denkmalschutzwürdiges Ensemble in einer sog. Terrassensiedlung übernommen hat. Das Besondere daran: Grund und Boden gehören nicht der Genossenschaft, sie verwaltet lediglich den Bestand von 324 Wohneinheiten. Ähnlich verhält es sich mit der „Mietergenossenschaft Gartenstadt Farmsen eG“ und ihren knapp 2.600 Wohneinheiten, die in weitläufigen Grünanlagen mit einem großen Baumbestand, umfangreichen Wiesen und vielen Gärten – einer „Gartenstadt“ eben – eingestreut sind. Beide Selbstverwaltungsgenossenschaften sind aus Beständen der vormals gemeinnützigen und gewerkschaftseigenen Neuen Heimat entstanden. Sie waren nach deren Konkurs von der Freien und Hansestadt Hamburg übernommen und nach langwierigen Protesten örtlicher Mieterinitiativen und harten Verhandlungen mit der Stadt in die lokale Selbstverwaltung überführt worden.

Zurück zu den genossenschaftlichen Anfängen – zu einer Kultur bürgerschaftlich organisierter Selbsthilfe und sozialer Verantwortung

Heute stehen rund 30 klassischen Wohnungsgenossenschaften in Hamburg fast ebenso viele neue gegenüber, die 1985 und später gegründet worden sind. Das ist ein bundesweiter Rekord und zeigt: Hamburg ist eine Stadt, in der der Genossenschaftsgedanke lebt und von dem Impulse auf eine Modernisierung der Genossenschaftsidee und –praxis ausgehen.

Rein quantitativ betrachtet ist der Beitrag der neuen Genossenschaften zur Hamburger Wohnungsversorgung bescheiden. Die meisten sind von deren Initiatoren lediglich zum Zweck der Realisierung eines einzigen Bauvorhabens gegründet worden. Nach 1990 waren das größtenteils Neubauten. Zusammengenommen – ohne die Neugründungen aus der Hinterlassenschaft der Neue Heimat geht es um ein Bauvolumen von etwas mehr als 1.000 realisierten Wohneinheiten.

Wenig Masse ist nicht gleichzusetzen mit wenig Bedeutung. Der inhaltliche Input, der hinter diesem relativ kleinen Wohnraumkontingent und ihren Trägern steht, ist beachtlich. Die neugegründeten Träger stehen in besonderer Weise für genossenschaftliche Grundprinzipien: Sie wurden gegründet aus bürgerschaftlicher Selbsthilfe, um Selbstverantwortung ihrer Mitglieder und direkte demokratische Mitgestaltung im Wohnen zu verwirklichen. Sie haben das Thema „Nachbarschaften“ erfunden, das heutzutage die Wohnungswirtschaft insgesamt bewegt, indem sie selbsttragende Nachbarschaften von jungen Familien, von jung und alt und von behinderten und nichtbehinderten Menschen geschaffen haben. Viele sind vor Ort aktiv und wirken in „ihre“ Quartiere hinein.

Junge Genossenschaften haben nicht nur Ideen, sondern konkrete Angebote für Hamburg erarbeitet und mitgeholfen, höchst konfliktträchtige Hausbesetzungen zu spannenden Selbstverwaltungsmodellen zu entwickeln. Sie sind dabei, zum Abriss freigegebene Areale für moderne Angebote von Kunst und Kultur zu erhalten. Unter ihren Dächern wird Inklusion verwirklicht: Sie integrieren Wohnraum für Menschen mit körperlichen oder seelischen Handicaps, Familien in Wohnungsnot, Frauen, die Gefahr laufen, auf der Straße zu landen, gefährdete Jugendliche, die Hilfen benötigen. Sie sind Pioniere in der Entwicklung und Erprobung energiesparender Techniken im Mehrfamilienhausbau, längst bevor die IBA und andere das zu ihrem Thema gemacht haben. Kurzum: Sie sind eine spannende und höchst innovative Bereicherung im Portfolio des Hamburger Wohnungsmarktes.

Die Freie und Hansestadt Hamburg ist gut beraten, diese Potentiale nachhaltig zu fördern.

Dr. Josef Bura ist 1. Vorsitzender des Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V., Bundesvereinigung

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 18(2012), Hamburg