Kategorien
Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Alt werden im Wohnprojekt

Orte, an denen das erfolgreiche Älterwerden mitgestaltet wird

*** von Jana Wallrath ***

Viele Menschen wünschen sich für ihr Altsein ein Leben in einer regen Gemeinschaft von Jung und Alt. Das zeigt sich in Gesprächen in Beratungsstellen zum Wohnen im Alter ebenso wie in vielen Umfragen zu diesem Thema. In Wohnprojekten – also Hausgemeinschaften mit abgeschlossenen Haushalten und Gemeinschaftsräumen im Innen und Außen – scheinen diese Träume wahr zu werden.1)

Und andere Menschen machen es ja erfolgreich vor. Zum Beispiel Henning Scherf, ehemaliger Bürgermeister von Bremen, wird nicht müde, Vorträge in ganz Deutschland zu halten und von den guten Seiten seines Wohnprojekts zu berichten. Die Idee, sich für das Alter eine Wohnung in so einem Projekt zu suchen, ist deshalb geradezu unwiderstehlich.

DAS ALTER NEU ERFINDEN

Die Diskussionen über den demografischen Wandel fördern die hohe Anziehungskraft, vor allem bei den Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen. Dieser Impuls ist klasse, wenn er dazu führt, dass sie sich aufmachen, ihr Alter neu zu erfinden. Sie können dabei den Fußstapfen der 68erGeneration folgen. Diese jetzt „Alten“ beteiligen sich an Wohnprojekten sowohl aus dem Wunsch nach Nähe und Kontakt als auch dem Anliegen, mit zu gestalten. Die kommenden Alten, zwischen 1955 und 1969 geboren, werden noch mehr klug gestalten und mit anderen kooperieren müssen. Denn einerseits werden sie mit geringeren Renten und teurerem Wohnraum konfrontiert sein. Andererseits werden die bisherigen Versorgungssysteme Familie und Institutionen immer weniger und nur zu hohen Kosten leistungsfähig sein.

Aus gesellschaftspolitischer Perspektive bieten Wohnprojekte somit die Chance, einen Dritten Sozialraum zu bilden. Zwischen Familien und Institutionen gestalten sie mit dem, was die Beteiligten geben und brauchen, eine weitere soziale Umwelt. Da diese Umwelt in der derzeitigen Gesellschaft immer noch neu und ungewöhnlich ist, sollen hier einige Mut machende Hinweise genannt werden.

Auch dem Eindruck, Wohnprojekte seien nur etwas für betuchtere Leute, soll an dieser Stelle widersprochen werden. Sicher werden Eigentümer-Wohnprojekte eher von Menschen mit einem dazu geeigneten finanziellen Hintergrund angesteuert. Aber auch gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften ermöglichen schon viele Wohnprojekte oder werden zur Verwirklichung neuer Mieterwohnprojekte gegründet. Gerade die Mieterprojekte sind mit Blick auf die Demografiefallen Altersarmut und Wohnraumkosten interessant, weil die sich bildende solidarische Gemeinschaft weitgehend über die Gestaltung von Mieten mitentscheiden kann.

DAS ZUSAMMEN-WOHNEN IM PROJEKT

Nun ist hinlänglich bekannt, dass Wohnprojektgruppen nicht selten zehn Jahre lang planen. Diese Zeit ist nach ihren Erfahrungen aber in vielerlei Hinsicht wichtig. Sie hat den Vorteil, dass sich vieles sortiert und klärt. Und sie führt zu stabilen Gruppen, die das spätere Zusammenwohnen mit weitaus weniger Frust und Streit bewältigen. Gruppen, die schnelle Umsetzungen erreichen, haben wichtige Wege abgekürzt und könnten dafür später im Zwischenmenschlichen einen hohen Preis zahlen.

Die gute Mischung zu finden, sehen viele Bewohnerinnen und Bewohner als Kunst, Glück oder Überraschung – aber die wichtigste Zutat ist eine gute Gruppenkommunikation. Auch jede einzelne Person muss viel tun: Zum Beispiel den gemeinsamen Alltag für nicht selbstverständlich halten. Tatsächlich müssen sich alle Beteiligten auf eine große Vielfalt von Sichtweisen und Lebenskonzepten einstellen, und diese Vielfalt kann irritieren und sogar stören.

Mit dem Einzug wird aus der Wohnprojektgruppe eine raumgebundene Community. Diese Community gilt es zu gestalten, aus der Gruppe heraus, aber auch für die individuellen Interessen der Einzelnen. Der Zusammenhalt in der Gruppe wird durch praktizierte Anerkennung, gegenseitige Zuwendung und wahrgenommene Wichtigkeit bestimmt. Die Gruppen erleben Anregung und entwickeln Vertrautheit und Verlässlichkeit. Ein großer Vorteil ist es, wenn sie über eine belastbare Kultur der Konfliktbewältigung verfügen. Die Einzelnen tun gut daran, ihre Selbstbestimmung zu wahren und sich selbstfürsorgend abzugrenzen. Der Begriff des empathischen Egoismus fasst die Gestaltungsanforderungen sehr treffend zusammen.

Die Älteren nehmen in den Gruppenprozessen keine grundsätzlich andere Rolle ein als die Jüngeren. Denn bei Verhandlungen und Entscheidungen kommt es jeweils auf die individuellen Stärken an. Tatsächlich gehen viele Bewohnerinnen und Bewohner von Wohnprojekten offen und interessiert miteinander um. Sie merken, wie sehr sie von dem Anderssein der Anderen und den von ihnen ausgehenden Impulsen profitieren. Und auch sie selbst sind Teil der sich bildenden Kultur, indem sie ihre Erfahrungen und Ideen in die Gruppe hineingeben.

DER RAHMEN FÜR HILFE UND VERSORGUNG

Wohnen im Alter wird oft auf Barrierefreiheit und Versorgung reduziert. Bevor ältere Menschen mit umfassendem Pflegebedarf ins Heim gehen, finden sie Angebote des Servicewohnens attraktiv. Dort sind barrierearme Gebäude immer häufiger vertreten. Das ist auch wichtig, weil häusliche Barrieren und entfernt gelegene Infrastrukturen die wichtigsten Gründe dafür sind, dass altwerdende Menschen nicht mehr in ihrer bisherigen Wohnumgebung zurechtkommen.

Auch in Wohnprojekten ist die Minimierung von räumlichen Barrieren ein wichtiges Thema – und leider nicht immer für die einzelne Person zu verwirklichen. Weitaus wichtiger erschien den Menschen die Einbindung in die Gemeinschaft – als ein eigener Aspekt von „Service“. Die Projektgruppen schlossen keine Vereinbarungen über das gegenseitige Helfen bei Bedürftigkeit. Oft jedoch verpflichteten sie sich zu einer zugewandten Haltung und sahen kommende Hilfestellungen als freiwillig gegebenes Engagement an. Regelrechte Pflege will ohnehin keiner der älteren Bewohnerinnen und Bewohner von den Nachbarn in Anspruch nehmen: Alle sehen sich nur bei dem ausgebildeten Personal von Pflegediensten in den richtigen Händen. Wie das, was darüber hinaus für das Leben im Alter noch erforderlich ist, von den Nachbarn geleistet wird, darüber liegen noch keine breiten Erfahrungen vor. Einige Bewohnerinnen und Bewohner hatten bei längerer Krankheit schon erlebt, wie sich die Gemeinschaft um sie bemühte. Sie schöpften daraus Zuversicht, dass sich die Solidarität über die Zeit weiter festigt und eine gewisse Hilfe im Alter als gutnachbarliche Leistung möglich werden wird.

Was eine Projektgemeinschaft an gegenseitiger Hilfe künftig leisten kann, hängt auch davon ab, wie sie sich entwickelt. Schon die sich wandelnde Alterstruktur und die Ab- und Zugänge von Bewohnerinnen und Bewohnern haben einen kaum zu kalkulierenden Einfluss. Ein verlässlicher Zusammenhalt untereinander erlaubt es jedoch, gemeinsam den Befürchtungen gegenüber der Zukunft des Alterns mit Humor zu begegnen und daraus das Vertrauen zu entwickeln, dass sich für alles eine zusammen umzusetzende Lösung finden lässt.

VON NIX KOMMT NIX UND ES GIBT KEINE GARANTIEN

Das alles geschieht jedoch nicht von selbst, sondern das Aufeinander- Zugehen ist in allen Phasen – von der Planung bis zum Zusammenwohnen – wichtiger Teil der Gruppenarbeit. Eine wirklich unverzichtbare Anforderung für erfolgreiche Wohnprojekte ist, dass die Einzelnen die Vielfalt der Gruppe positiv zu nutzen wissen. Wenn die Gruppenprozesse gelingen sollen, dürfen unterschiedliche Merkmale wie Alter, Einkommen, Bildung und Beruf nicht dazu dienen, Vorrechte oder Rangordnungen zu begründen. Geschieht das – und die Gefahr ist groß –, entstehen vor allem verdeckte Konflikte, die nach den Erfahrungen von Mediatoren in dem bestehenden Setting nur schwer zu lösen sind. Erfolgreiches Projektwohnen erfordert viel Mut und Tatkraft: Mut, sich zu öffnen und andere Sichtweisen zu akzeptieren; Mut, sein eigenes Wertegebäude zu hinterfragen und zu verändern; Tatkraft, diese Prozesse der Verständigung fortlaufend am Leben zu erhalten. Dann ergeben sich große und immer neue Möglichkeiten für ein gelingendes Altern – aber nichts davon ist garantiert. 

1) Der Text gründet sich auf die 2014 erschienen Dissertation von Jana Wallrath: Alternative Heimat. Über die Chancen von Wohnprojekten für das Leben im Alter. Eine Untersuchung in der Metropolregion Hamburg. – Hamburg: Disserta-Verlag, 2014. – ISBN 978-3-95425-360-9

Diplompsychologin Dr. Jana Wallrath arbeitet freiberuflich als Beraterin, Coach, Trainerin und Therapeutin. Durch ihre langjährige Arbeit als Reha-Beraterin kam sie zum Thema Wohnen im Alter und schrieb darüber an der HafenCity Universität Hamburg ihre Doktorarbeit. Mehr unter www.wallrath-hamburg.de.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 20(2014), Hamburg