Eine komplexe baldige Herausforderung für alle!
*** von Ingrid Breckner ***
In diesem Beitrag werden einige Beobachtungen anlässlich der Tagung „Altwerden im Quartier“ zusammengefasst, die Ende Juni 2010 in Hamburg stattgefunden hat. Die Tagung machte unterschiedliche Ansätze zur quartiersbezogenen Versorgung von älteren Menschen zum Thema. Ingrid Breckner, Professorin an der HafenCity Universität in Hamburg, kommentiert für FreiHaus den Handlungsbedarf.
Die Alterung der Gesellschaft wird häufig im Kontext des weltweit beobachtbaren demografischen Wandels diskutiert. Entsprechende deutsche Erscheinungsformen der Alterung werden dabei zu vergleichbaren Phänomenen in modernen europäischen und asiatischen Gesellschaften in Beziehung gesetzt und nach innerstaatlichen Unterschieden v.a. zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen untersucht. Unstrittig ist dabei, dass Alterung in allen nachindustriellen gesellschaftlichen Räumen früher oder später eintritt und Veränderungen der Lebensbedingungen für alte wie für jüngere Menschen auf verschiedensten Handlungsfeldern erfordert.
Alter ist nicht gleich Alter
Schwierig wird die Diskussion dieser Thematik immer dann, wenn zu entscheiden ist, was wo, für wen, von wem, warum und mit welchen Mitteln verändert werden soll. Denn dabei zeigt sich sehr schnell, dass das Altwerden nicht einmal auf der kleinräumigen Ebene von Wohnquartieren eine homogene Angelegenheit darstellt. Alt ist nicht gleich alt, weder in Jahren, noch in der Befindlichkeit, noch in Bedürfnissen und Handlungsmöglichkeiten noch in den erforderlichen finanziellen Aufwendungen. Neben dem kulturellen Kapital in Form von Bildung, Kommunikationsfähigkeit und Fremdheitserfahrungen, bestimmen soziale Netzwerke zunehmend stärker in Freundeskreisen und Nachbarschaften als in Familien sowie die jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnisse, wie mehr oder weniger gesunde alte Menschen ihren klein- oder weiträumigeren Alltag gestalten können. Deshalb erfordern Aktivitäten in Bezug auf das Altwerden im Quartier stets eine sorgfältige Vergewisserung über den konkreten Handlungsbedarf der jeweils vor Ort lebenden alten Menschen. Standardlösungen bieten sich dabei nur in wenigen technischen Dingen an, wenn es z.B. um die Vermeidung physischer Hindernisse im Alltag geht. Solche Aktivitäten sollten möglichst dann durchgeführt werden, wenn in Wohnungen, Wohnhäusern oder im Wohnumfeld Erneuerungsmaßnahmen anstehen. Viel häufiger gilt es jedoch kreative Ideen für möglichst kostengünstige Einzelfall-Lösungen zu entwickeln und umzusetzen, die den Alltag betroffener alter Menschen vor Ort kurzfristig erlebbar erleichtern. Ihre Mithilfe ist dabei durchaus sinnvoll, da sie am ehesten über ihre dringendsten Schwierigkeiten Bescheid wissen und die Umsetzung angemessener Maßnahmen u.U. mit eigenen Ideen, sozialen oder auch finanziellen Ressourcen unterstützen können.
Angebote müssen bezahlbar sein
Die Gestaltung jeglicher Unterstützung des Altwerdens in städtischen Quartieren wie in ländlichen Nachbarschaften setzt einen offenen Umgang mit den finanziellen, kulturellen und sozialen Möglichkeiten der Begünstigten voraus. Viele alte Menschen verfügen aufgrund niedrig bezahlter oder diskontinuierlicher Erwerbstätigkeit über geringe Einkommen und betonen in Befragungen immer wieder, dass es um bezahlbare Verbesserungen ihres Alltags in den Bereichen Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Mobilität und Freizeit geht, die bestehende Handlungsspielräume nicht einschränken. Dienstleistungen sollten sich nicht nur finanziell an den Ressourcen der Nachfragenden ausrichten, sondern auch deren kulturelle (sprachliche, hygienische, gesundheitliche und kulinarische) Anforderungen im Blickfeld behalten. Wichtig ist v.a. die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Anbietern und Nachfragern von Dienstleistungen für unterschiedliche alte Menschen, da viele von ihnen sich im fortgeschrittenen Alter von der Veränderungsdynamik ihrer Umwelt überfordert und dadurch verunsichert fühlen. Besondere Umsicht ist bei Interventionen in die Mobilität älterer Menschen geboten. Wohnortwechsel verunsichern insbesondere diejenigen alten Menschen, die bereits mit vielfältigen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und bergen die Gefahr des Verlustes vertrauter Umgebung und sozialem Kapital in der gewohnten Nachbarschaft.
Unterstützung von Profis und Laien vernetzen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass professionelle Unterstützung der älteren Generation nach dem Modell standardisierter industrieller Produktion den differenzierten Bedürfnissen älterer Menschen heute nicht mehr gerecht wird. Die von Klaus Dörner in seinem Beitrag geforderte Verwirklichung von „heimfreien Zonen“ mit „Schwarzbrotspiritualität“ erfordert ein differenziertes Wissen über Aktionsräume älterer Menschen sowie die Verknüpfung unterschiedlicher professioneller und Laienkompetenzen einschließlich derer der Begünstigten. Solche Ansätze werden seit einigen Jahren erfolgreich mit dem Konzept der „Microarea“ in Triest (vgl. Bifulco et. al. 2008) auf der Grundlage der Lernprozesse während der konsequenten Umsetzung der italienischen Psychiatriereform (vgl. Müller-Hülsebusch/ Franke 1980) in einem steuerfinanzierten Gesundheitssystem mit regionalen Entscheidungskompetenzen verwirklicht. Es bleibt zu hoffen, dass die vielfältigen Initiativen in bundesdeutschen Wohnquartieren – auch mit Hilfe der Fortsetzung des kritischen vergleichenden Diskurses auf Fachtagungen – in Zukunft in angemessene Versorgungsstrategien münden. Sie müssen aus ressortübergreifender Kooperation auf allen räumlichen sowie fachlichen und zivilgesellschaftlichen Handlungsebenen im Interesse der Nutznießenden gespeist werden und sich den stets verändern Bedürfnissen der Nachfrage in unterschiedlichen städtischen und ländlichen Lebenswelten kompetent anpassen.
Ingrid Breckner ist Stadtsoziologin und Professorin an der HafenCity Universität in Hamburg und Mitglied im Beirat der FreiHaus.
Zum Nachlesen
Bifulco, Lavinia / Bricocoli, Massimo / Monteleone, Raffaele (2008): Activation and Local Welfare in Italy. Trends and Issues. In: Social Policy and Administration. Vol. 42, Nr. 2. S. 143–159.
Müller-Hülsebusch, Bernhard / Franke, Klaus (1980): SPIEGEL Gespräch Menschenrechte für die Gulags im Westen. Der italienische Psychiatrie-Reformer Franco Basaglia über die Öffnung der Irrenhäuser. In: Der Spiegel vom 07.04.1980. www.spiegel.de/spiegel/print/d-14325378.html (06.03.10).
zuerst veröffentlicht: FreiHaus 17(2010), Hamburg