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Anders (als) gewohnt!

Den demografischen Wandel gestalten mit Gemeinschaftlichem Wohnen plus

*** von Romy Reimer ***

Unsere Gesellschaft wandelt sich: während der Anteil alter und hochaltriger Menschen in den kommenden Jahrzehnten stark ansteigt, treten neben traditionelle Lebensweisen und Beziehungsformen andere Formen der Gestaltung und Organisation von Beruf und Lebenswelt. Projekte aus dem Modellprogramm „Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“ zeigen, dass und wie sich der Wandel auch in einem ‚anders Wohnen (wollen)‘ manifestiert.

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die vielfältigen Prozesse des sozialen und demografischen Wandels aktiv zu gestalten und frühzeitig jene Weichen zu stellen, die ein selbstbestimmtes Altern in Würde ermöglichen. Gemeinschaftliche Wohnformen stärken den zivilgesellschaftlichen Anteil an diesem Unternehmen, indem sie Menschen einander näher bringen, soziale Teilhabe sichern und wechselseitige Fürsorge auch jenseits von Familie fördern. In dieser Hinsicht wird Gemeinschaftliches Wohnen vielerorts bereits als ein vielversprechender Bestandteil einer nachhaltigen Quartiersentwicklung erkannt und gefördert.1)

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) unterstützt mit dem Modellprogramm Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben im Zeitraum von 2015–2019 insgesamt 29 Projekte bundesweit mit jeweils bis zu € 200.000. Die ausgewählten Projekte verbindet der Ansatz Wohnen anders als gewohnt zu planen, d. h. kooperativ und gemeinschaftlich tragfähige Wohnmodelle für die Zukunft zu entwickeln. Dazu gehören selbstbestimmte Wohnprojekte, in denen mehrere Generationen unter einem Dach selbstverwaltet zusammenleben möchten, ebenso wie Projekte professioneller Träger, die Gemeinschaftliches Wohnen mit Beratungs-, Pflege-, Teilhabe- und Unterstützungsangeboten verbinden wollen. Ziel des BMFSFJ-Programms ist es, Handlungsmöglichkeiten zur Bewältigung aktueller und zukünftiger wohnungspolitischer Herausforderungen auszuloten und weiterzuverbreiten.

HANDLUNGSFELDER

Drei zentrale Handlungsfelder wurden identifiziert und in die Architektur des Modellprogramms eingelassen: 

  • Damit Menschen im Alter und bei Pflege- und Unterstützungsbedarf selbstbestimmt leben können, benötigen sie eine Infrastruktur, die Versorgungssicherheit, Unterstützung im Alltag sowie Angebote sozialer Teilhabe und Teilnahme bietet. Schwerpunkt A des Modellprogramms fördert daher gemeinschaftliche Wohnformen, die Angebote für Versorgung, Pflege, Teilhabe und Beratung integrieren und somit innovative Lösungen für eine selbstständige und unabhängige Lebensführung insbesondere älterer und hochbetagter Menschen im Projekt, Quartier oder Dorf aufzeigen. Entsprechende Projekte schaffen beispielsweise Pflege- und Betreuungsangebote im unmittelbaren Wohnumfeld, organisieren ehrenamtliche bzw. nachbarschaftliche Hilfen und koordinieren Hilfe-Mix-Strukturen. 
  • Die enormen Mietpreissteigerungen in vielen Städten erhöhen die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum. Angesichts des prognostizierten Anstiegs armutsgefährdeter alter Menschen in den kommenden Jahrzehnten2) werden viele barrierefreie Kleinstwohnungen benötigt. Förderschwerpunkt B des Modellprogramms fördert entsprechend Initiativen, die den Zugang von Menschen mit niedrigem Einkommen in das Gemeinschaftliche Wohnen verbessern und sowohl eine soziale als auch eine alters mäßige/generationenübergreifende Durchmischung realisieren. Entstehen soll bezahlbarer Wohnraum, der Mieter*innen Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung bietet. 
  • Kulturelle Vielfalt ebenso wie heterogene Lebensweisen, Beziehungsformen und disparate Lebenslagen erfordern inklusive, generationengerechte, gender- und kultursensible Wohn- und Wohn-Pflege-Angebote.3) Förderschwerpunkt C des Modellprogramms nimmt daher Bezug auf die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung, mit Fluchterfahrung bzw. Migrationsbiografien und Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bi-, trans- oder intersexuell bezeichnen. Gefördert werden Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens, die es Menschen ungeachtet ihrer sozialen und kulturellen Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Glaubens und ihrer körperlichen und geistigen Verfassung ermöglichen, in der Mitte der Gesellschaft zu leben.

Neues Leben in alten Klassenzimmern Wohnprojekt staTThus

(Architektur: Planerkollektiv)

STATTBAU Hamburg begleitet das STATTHUS Wohnprojekt in Husum als Baubetreuer. Es ist eines der in Förderschwerpunkt B aufgenommen Modellprojekte und wird Anfang 2019 bezogen.
Weitere Informationen zum Wohnprojekt unter https://statthus.de/ und https://stattcloud.de. Das Projekt wird auch im Rahmen des Modellprogramms vorgestellt

BEISPIELGEBENDE PROJEKTE AUS DEM FÖRDERSCHWERPUNKT A 

  • Das Petrihaus in Hofgeismar Es verbindet Gemeinschaftliches Wohnen mit kleinteiligen Versorgungssettings im Quartier, indem es sogenannte plus-Bausteine in das Gemeinschaftliche Wohnen integriert und damit die Rahmenbedingungen verbessert, im Alter und bei Pflegebedarf selbstbestimmt leben zu können. Das Petrihaus in Hofgeismar ist ein Beispiel für trägerinitiiertes Gemeinschaftliches Wohnen plus. Es basiert auf einer Kooperation zwischen der Wohnungsbaugenossenschaft Hofgeismar eG, dem Non-Profit-Pflegedienst Pflege, Hilfe & Betreuung (PHB) e. V. sowie dem Verein Selbstbestimmt Leben – Gemeinsam Wohnen e. V. Gemeinsam realisieren die Projekt träger im Zentrum der Altstadt Hofgeismars ein gemeinschaftliches Wohnangebot, das die unterschiedlichen Grade von Pflege- und Unterstützungsbedarf älterer Menschen berücksichtigt. Mit 12 barrierefreien Servicewohnungen, einer Tagespflegeeinrichtung mit 15 Plätzen, zwei ambulanten Wohngemein schaften für insgesamt 21 Personen sowie niedrigschwelligen ehrenamtlichen Hilfen wird ein ganzheitliches Versorgungsangebot geschaffen, das es Menschen ermöglicht bis zum Lebensende im Petrihaus in Hofgeismar zu verbleiben. Der integrierte NachbarschaftsTreff mit Teeküche, eine Physiotherapiepraxis sowie ein Beratungsbüro für Bürger*innen eröffnen eine zusätzliche Verbindung zum Quartier. 
  • Das selbstinitiierte Kölner Wohnprojekt Wunschnachbarn WEG. Plus-Baustein ist hier eine CoHousing-Etage für ältere Projektmitglieder mit 4 barrierefreien Wohneinheiten, die durch eine große Gemeinschaftsküche miteinander verbunden sind. Die Räumlichkeiten der CoHousing-Etage, die zurzeit von einer Gruppe von vier Älteren im Alter von 58-66 Jahren bewohnt werden, ermöglichen ein WG-ähnliches Zusammenleben von mit regelmäßigen Kontakten und wechselseitiger Unterstützung im Alltag.

So vielfältig die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels in Stadt und Land sind, so vielschichtig gestalten sich auch die Lösungen bzw. Bewältigungsstrategien, die die Initiator*innen gemeinschaftlicher Wohnformen entwickelt haben beziehungsweise aktuell entwickeln. Das Besondere am Gemeinschaftlichen Wohnen plus ist der integrative Ansatz des Konzepts. Die Projekte bieten Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf Alternativen zum Umzug in ein Pflegeheim, indem sie in den Quartieren barrierefreien und barrierearmen, im besten Falle auch preiswerten,

Wohnraum mit einer tragfähigen gemeinschaftlichen Basis schaffen und mit Unterstützungs- und Versorgungsangeboten kombinieren. Modellprojekte wie Hofgeismar und Köln repräsentieren neue Wohnbedürfnisse und sie zeigen, wie der Wandel im Wohnen gestaltet werden kann bzw. welche Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung Gemeinschaftliches Wohnen plus eröffnet. 

1) Vgl. hierzu Pätzold, R. 2018, Den Wandel im städtischen Quartier gestalten. Gemeinschaftliche Wohnprojekte als Impulse, Labore und Modelle. In: FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V., Bundesvereinigung (Hrsg.), Gemeinschaftliches Wohnen plus., Teilhabe, Fürsorge, Pflege, Beratung, S. 38-46.
2) Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 2017, Entwicklung der Altersarmut bis 2036. Trends, Risikogruppen und Politikszenarien, (Zugriff 04.06.2018)
3) Vgl. Kaiser, C. 2018, Neue Wohnformen gender- und kultursensibel gestalten. In: FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V., Bundesvereinigung, Gemeinschaftliches Wohnen plus., Teilhabe, Fürsorge, Pflege, Beratung, S. 68-76.

Dr. Romy Reimer ist Referentin beim FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V., Bundesvereinigung und betreut das Modellprogramm „Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“ des BMFSFJ.

Weitere Informationen

Modellprogramm „Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“.
Die Publikation des Modellprogramms „Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“ kann unter folgendem Link heruntergeladen werden.