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Architektur/Planungskultur Artikel Wohnprojekte Hamburg

Baugemeinschaften in neuen Quartieren

Acht Thesen zu einem erfolgreichen Gelingen

*** von Joachim Reinig und Tobias Behrens ***

In neuen Stadtteilen und Quartieren in Hamburg sind größere Anteile für Baugemeinschaften vorgesehen, so z. B. in Oberbillwerder mit mehr als 1.500 Wohnungen für Baugemeinschaften, aber auch in der Neuen Mitte Wilhelmsburg mit ca. 1.000 neuen Wohnungen. Damit das gelingt müssen die Rahmenbedingungen stimmen.

Als urbane Pioniere tragen Baugemeinschaften wesentlich zur Akzeptanz und Stärkung gemeinschaftlichen Lebens in neuen Stadtteilen bei.

Damit Baugemeinschaften in neuen Quartieren erfolgreich entwickelt werden können, sind einige Rahmenbedingungen erforderlich, die im Folgenden thesenartig beschrieben werden sollen.

1. BAUGEMEINSCHAFTSPROJEKTE NICHT VEREINZELN, SONDERN GEBÜNDELT PLATZIEREN

Baugemeinschaften in neuen Quartieren sollen nachbarschaftlich angeordnet werden und nicht innerhalb des Neubaugebiets „gestreut“ werden. Durch die Konzentration sind gemeinsam zu nutzende Einrichtungen möglich, wie Gemeinschaftsräume, Kinderbetreuung, Lebensmittel-Cooperativen, Sauna oder Wellnessbereiche, etc. Durch die Bündelung der Baugemeinschaften an einer bzw. mehreren Stellen, muss das „Wohnen plus“ genau an diesen Stellen erkennbar werden. In den Strukturplänen des dialogorientierten Wettbewerbsverfahrens für Oberbillwerder müssen die Baugemeinschaftsquartiere bereits verortet und qualifiziert werden.

Die Erfahrungen zeigen, dass Grundstücke für Baugemeinschaften schon im städtebaulichen Wettbewerb definiert und ihre besonderen Qualitäten dargestellt werden müssen. In Neugraben-Fischbek wurden Reihenhausgrundstücke nachträglich zu Baugemeinschaftsgrundstücken im Geschosswohnungsbau umgewidmet. Dies war einerseits erfreulich, andererseits führte es zu erheblichen Flächenproblemen und Nutzungskonflikten.

2. STADT DER KURZEN WEGE UMSETZEN

Die städtebauliche Einbindung von Baugemeinschaften muss auf die Lebenssituation der Bewohner Antworten finden, die ihnen das Leben erleichtern: z.B. Nähe von Kinderbetreuung und Existenzgründerzentren, shared space-Arbeitsplätze, optimale Lage von Fahrradabstellräumen und Versorgungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten im Rahmen von Direktvermarktung aus den Vierlanden.

Urbane Dichte ist gewünscht, sie macht Quartiere für neue Bewohner interessant. Es sollte jedoch keinen Zwang zur durchgängigen gewerblichen Erdgeschossnutzung geben, Mischung mit integrativem Wohnen im Erdgeschoss und soziale Nutzungen sollten offengehalten werden.

3. GRUNDSTÜCKE NACH BEDARF ZUSCHNEIDEN

Die Parzellierung und der Zuschnitt der Grundstücke sollte dem Bedarf folgen.

Erst nach der Konzeptausschreibung bzw. der Ermittlung der Bedarfe sollte die Vergabe der Grundstücke erfolgen. Vorbild ist dabei die Grundstücksvergabe in Freiburg Vauban, bei der die Interessenten, und nicht der Verkäufer, die Grundstücksgröße der Projektgröße anpassen konnten.

Die Grundstücke müssen kleinteilig parzellierbar sein in Modulen von 4 bis maximal 20 Wohneinheiten, die dann auch nachbarschaftlich kombinierbar sind. Die Hamburger Verwaltung neigt dazu, viel zu große Parzellen anzubieten, was Baugemeinschaften oft überfordert und Großinvestoren bevorzugt.

Quartiersgaragen und Spielplätze bzw. Freiräume müssen eindeutig zuzuordnen sein. Eine Mischung von Baugemeinschaften mit anderen Inves toren führt stets zu Abgrenzungsproblemen.

4. MARKETINGKONZEPT FÜR DIE BAUGEMEINSCHAFTEN ENTWICKELN

Die Vergabe von Grundstücken für eine solche große Zahl an Baugemeinschaftswohnungen ist kein Selbstgänger. Deshalb muss frühzeitig ein Marketingkonzept entwickelt werden, dass die besonderen Qualitäten von Baugemeinschaften heraus stellt und verschiedene Zielgruppen gesondert anspricht. Dieses Konzept muss insbesondere für Oberbillwerder und dem gesamten Hamburger Osten aber auch hamburgweit umgesetzt werden. Dafür müssen geeignete Veranstaltungsformate entwickelt werden, z. B. durch regelmäßige überregionale und lokale Wohnprojektbörsen.

5. ANREIZE DURCH BESONDERE FÖRDERUNG SCHAFFEN

Die Schaffung eines neuen Stadtteils „auf der grünen Wiese“, der vielfältig, lebenswert, generationengerecht und inklusiv sein soll, ist eine komplexe Herausforderung für alle Beteiligten. Die öffentliche Wohnungsbauförderung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Im Stadtteil Neuallermöhe kann man sehen, wie durch eine falsche Förderungs- bzw. Belegungspolitik ein sehr einseitig geprägter Stadtteil mit einem Migratenanteil von heute 64% entstanden ist – bei Jugendlichen unter 18 Jahren kommen sogar 78% aus einem Haushalt mit Migrationshintergrund.

Insofern sind die Förderbedingungen anzupassen, bzw. sollten besondere Anreize in der Förderung angeboten werden, die Menschen zu einer Beteiligung an einer Baugemeinschaft in diesen neuen Quartieren ermutigt.

Dies könnten z. B. sein: Für junge oder wachsende Familien sollten bis zu zwei zusätzliche Kinderzimmer förderfähig werden. Auch für Existenzgründer ist ein Arbeitszimmer erforderlich, viele start-ups beginnen zu Hause. Neue Fördermodelle sollten entwickelt werden, die dann die besonderen Förderbedingungen auf 10 Jahre befristen könnten.

6. CO2 NEUTRALE ENERGIEVERSORGUNG SCHAFFEN

Die Energieversorgung sollte möglichst auf Basis von regenerativen Energiequellen entwickelt werden und dabei insbesondere die Solarthermie berücksichtigen. Diese Versorgungskonzepte sind nicht nur ökologisch zu optimieren, sondern auch in Bezug auf die Kosten. Für qualitativ unterschiedliche Energiekonzepte sind weitreichende Einspeise- und Durchleitungsmöglichkeiten in die Netze von Strom- und Fernwärmenetze zu ermöglichen, die eine Vielfalt ökologisch zukunftsweisender Energiekonzepte sicherstellen.

5. DIE STADT ALS GARTEN ENTWICKELN

Urbane Dichte fordert eine Aufwertung der öffentlichen Räume und Grünflächen. Urban Gardening, begrünte Dachflächen und großzügige Balkone, Obstbäume im öffentlichen Raum – das sind nur einige Maßnahmen, die die Wohnqualität verbessern.

7. DEN SPEZIELLEN DRITTELMIX FÜR BAUGEMEINSCHAFTEN HERSTELLEN

Die Vielfalt der Rechtsformen bei Baugemeinschaften muss erhalten bleiben. Ein Drittelmix der Baugemeinschaften ist anzustreben zwischen 

  • Eigentümergemeinschaften,
  • Kleingenossenschaft/Dachgenossenschaft und 
  • Hausgemeinschaft bei Bestandsgenossenschaften.

Der Anteil der Hausgemeinschaften bei Bestandsgenossenschaften darf ein Drittel nicht übersteigen, damit die Eigenverantwortung der NutzerInnen für Haus und Quartier gestärkt wird. Hausgemeinschaften bei Bestandsgenossen – schaften haben bei Kosten und Organisation viele Vorteile, aber ihr Status kann sich leicht auf ein normales Mietverhältnisse reduzieren.

8. BAUGEMEINSCHAFTSEXPERTEN AUS HAMBURG FRÜHZEITIG EINBEZIEHEN

In den Beteiligungsgremien, Jurys, Beiräten, Vorprüfern, etc. müssen Fachleute für Baugemeinschaften mit ihrer Expertise vertreten sein. Hamburg zeichnet sich dadurch aus, dass es zahlreiche Architekten, Projektentwickler und wirtschaftliche Betreuer mit großen Erfahrungen in Baugemeinschaftsprojekten gibt. Diese Kompetenz gilt es frühzeitig einzubeziehen. 

Joachim Reinig ist Architekt und beschäftigt sich mit seinem Plan-R Architektenbüro mit den Arbeitsschwerpunkten Baugemeinschaften und neue Wohnformen. Dr. Tobias Behrens ist Geschäftsführer von STATTBAU Hamburg.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 22(2017), Hamburg