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Bedarfsgerecht Wohnen?

*** von Marieke Behne und Bernd Kniess ***

Cohousing, Coliving, Clusterwohnen – Nachhaltige Wohnformen als Antworten auf die ewig währende Wohnungsfrage in den Städten? Marketing oder Ausdruck einer Sehnsucht nach Formen kollektiven Lebens in der städtischen Gesellschaft? Versuch einer Annäherung mit Blick auf prozessorientierte Verfahren anhand der kollektiven Wohnprojekte (Miss) Sargfabrik und Schlor in Wien, Kalkbreite, Mehr als Wohnen und Zollhaus in Zürich sowie IBeB und Spreefeld in Berlin.

Um nachvollziehen zu können, warum das Interesse an kollektiven Wohnformen derzeit wieder wächst, lohnt ein Exkurs in die neue Wohnungsfrage: Wohnen ist heute weniger ein Problem der Knappheit, sondern ein Problem der Verteilung. Hinzu kommt, dass die Wohnung (als Ware) nicht nur auf dem lokalen Markt umkämpft, sondern als Finanz-produkt auf den globalen Märkten gehandelt wird (Hans Böckler Stiftung 2022). Dabei verlieren die Wohnraumproduzent*innen die Lebens-bedingungen einer sich ausdifferenzierten Gesellschaft immer weiter aus dem Blick. Die Folge ist die Reproduktion des gängigen Idealtypus der Drei- bis Vierzimmerwohnung. Dabei unbedacht bleiben nicht nur gegenwärtige Bedarfe oder zukunftsgerichtete Anforderungen einer immer älter werdenden und sich individualisierenden städtischen Gesellschaft, sondern auch die Folgewirkungen, wie die einer sich bereits jetzt abzeichnenden Krise der Fürsorge auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Fraser 2016). Es leitet sich die Frage ab: Wie wollen und wie werden wir wohnen?

Diese Frage lässt sich erweitern auf die nach der Weise des Be-Wohnens, welche nicht alleine Sorge trägt für das eigene Fortbestehen, sondern letztlich allen Lebens auf der Erde (Boano und Astolfo 2020). In diesem Zuge ist ein Streben nach neuen Formen einer Sozialität zu beobachten, die jenseits familiärer Bindungen nach alternativen Formen kollektiven Wohnens und Arbeitens in der Stadt sucht und sich unter anderem in genossenschaftlich und solidarisch organisierten Wohnprojekten zeigt. Diese Wohnprojekte haben sich in der Entwicklung und Nutzung dem Aspekt des „Teilens”, als politische, ökonomische und soziale Intention (Schmid et al. 2019) verschrieben. Die Projekte sind geprägt von Prozessen, die nicht alleine auf der Expertise von Architekt*innen, Projektentwickler*innen o.ä. basieren, sondern auch auf den Erfahrungen und den Alltagspraktiken der Wohnenden sowie des insgesamt verfügbaren (Wohn-)Wissens (Nierhaus 2014). Es liegt auf der Hand, dass solcherart Verfahren zeitintensiv sein müssen, wenn implizite und explizite Wissensbestände in einen produktiven Austausch gebracht werden und daraus nicht nur Projekte hervorgehen, die neue Wohnzusammenhänge ermöglichen, sondern damit auch die Voraussetzung schaffen, neue Wohnweisen in der Praxis einzuüben. Denn auch das zeigen die Projekte: Wohnen in neuen (sozialen) Zusammenhängen muss gelernt werden.

Als Voraussetzung für kollektive Wohnprojekte gelten weiterhin die Verfügbarkeit von und der Zugang zu Grundstücken resp. verfügbaren baulichen Beständen, Planungssicherheit bei der Finanzierung, Flexibilität in der Wahl von Organisationsstrukturen, die eine heterogene Zusammen-setzung der Bewohner*innen ermöglichen und die unbedingte Unterstützung neuer Formen gemeinschaftlichen und selbstorganisierten Wohnens seitens Politik und Verwaltung (vgl. auch Holm, Laimer 2021). Erfolgsentscheidend bleibt die Leistbarkeit des Wohnens – es gilt den Bodenwert auf ein Minimum zu reduzieren, sei es im Rahmen von Konzeptvergaben, den Erwerb zum Verkehrswert, im Erbbaurecht und/oder in Kooperation mit geeigneten Partner*innen wie bspw. dem Mietshäusersyndikat. Bezahlbarkeit kann dauerhaft nur gesichert werden, wenn Wohnraum resp. Boden der Spekulation entzogen wird.

Die Projekte haben Erfindungsreichtum bewiesen, indem sie nicht nur flexibel auf besondere Situationen schwer zu bebauender Grundstücke reagieren, sondern solche auf einer konzeptionellen Ebene erst erfinden (vgl. Kalkbreite, Überbauung einer Tramstation). Die Bindung staatlicher Förderungen an strukturelle Vorgaben, die lange nicht mit der Verän-derung von Lebensstilen Schritt halten können, erfährt durch zivilgesell-schaftliche Organisationsstrukturen auch im Hinblick auf Finanzierungs-konzepte erweiterte Handlungsoptionen. So führen etwa die mittels Direktkrediten erhöhten Eigenanteile zu verbesserten Konditionen bei klassischen Mittelgeber*innen. Quergeschaltete Verfahrens-, und Finanzierungsmodelle können, wie im Fall des IBeB in Berlin, ausschlaggebend sein für die Realisierung eines Projektes mit heterogener Akteurskonstellation aus Eigentümer*innen, Genossenschafts-mitglieder*innen und Sozialem Träger in zentraler städtischer Lage. Der Erfolg schließlich, ist ohne die Unterstützung und aktive Beteiligung der zuständigen Behörden nicht denkbar. Gerade bei großen Projekten wie Kalkbreite und Mehr als Wohnen hat die ungewöhnliche Offenheit der Behörden zusammen mit wirksamen Instrumenten der Wohnbau-förderung auf Basis der Wohnbauerfahrungen einer gut vernetzten Akteurslandschaft zum Gelingen des Projekts geführt. Wenngleich allein die Größe dieser Projekte viel Energie, möglicherweise zu Lasten kleinerer Projekte, absorbieren, so führt die mediale Aufmerk-samkeit nicht nur zum politischen Erfolg, dass Zürich auf neuartige gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitsformen im großen Maßstab verweisen kann, sondern auch dazu, dass geteilte Erfahrung und Wissen sich in Nachfolgeprojekten multiplizieren.

Diese Projekte nehmen die Verfahren, Prozesse, Räume, Nutzungen, Trägerschaften, Finanzierungen, Verwaltungen und den Gebrauch rund um das Wohnen gleichermaßen ernst und schaffen damit Qualitäten auf räumlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Ebenen. Aufgrund dieser Komplexität kann es keine generelle Handlungsanleitung geben, Wissen kann nur erlangt werden, wenn die Projekte weiter auf ihre Voraussetzungen hin untersucht, dargestellt, gefördert, vermittelt und erprobt werden. Eine Verbindung von Forschung und Praxis in Richtung einer anwendungsorientierten Wohnforschung kann – so die Vermutung – die verschiedenen Wohn-, und Produktionsweisen des Wohnens offenlegen, um sie schließlich produktiv werden zu lassen.

Welches also sind die vorhandenen Potentiale, die möglichen Stellschrauben und Instrumente, die die Entwicklung von kollektiven Wohnprojekten unterstützen? Neben den spezifischen Förderungen auf verschiedenen Ebenen unterstützt ein unbedingter politischer Wille den Prozess. Überhaupt eröffnet ein solcher den Freiraum zum Ausprobieren neuer Verfahren, wie etwa der aktiven Bearbeitung der Frage „Wie werden wir wohnen?“ im Rahmen eines vorgeschalteten Ideenwettbewerbs vor dem baulichen Architekturwettbewerb, oder der Vernetzung einzelner Genossenschaften zu Entwicklungsgenossenschaften, die ein Projekt wie Mehr als Wohnen in Zürich überhaupt erst hervorbringen konnten. Die Verbindung zwischen Wohnalltag und Wohnungsbau erscheint dabei als Weg, zu einer zukunftsoffenen, nachhaltigen, sozial gerechten und gemeinwohlorientierten Wohnungspolitik zu gelangen.

WIE WOLLEN UND WIE WERDEN WIR WOHNEN?

Das Projekt Kalkbreite in Zürich ist ein hybrider Stadtbaustein der sowohl Wohn-, als auch Gewerbenutzungen integriert. Das Projekt setzt auf eine Reduzierung der privaten Wohnfläche und der Auslagerung bestimmter Nutzungen in gemeinschaftlich geteilte Räume. Hier unter anderem eine Kantine, eine Bibliothek und ein Fahrradraum.1 (Bilder: Genossenschaft Kalkbreite, Volker Schopp.)

Denn auch das zeigen die Projekte: Wohnen in neuen (sozialen) Zusammenhängen muss gelernt werden

1 siehe auch: https://www.kalkbreite.net . Weitere Projekte dieser Art befinden sich in Wien: Sargfabrik (https://sargfabrik.at ); Schlor (https://schlor.org ); in Zürich: Mehr als Wohnen (https://www.mehralswohnen.ch ); Zollhaus (https://www.kalkbreite.net/zollhaus/wohnen-zollhaus/ ); in Berlin: Spreefeld (https://spreefeld.org ); IBeB (https://ibeb.berlin )

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Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg