Quartiersbezogene Angebote in all ihren Facetten
*** Christopher Chohen ***
In Hamburg-St. Georg hat sich ein neues, lokales Pflegenetzwerk konstituiert – aufsetzend auf die schon länger bestehende Kooperation im Rahmen der AG Stiftsviertel. Deren Mitglieder kooperieren fachlich und praktisch, um gemeinsam mit den Menschen vor Ort die Lebensbedingungen insbesondere für pflegebedürftige und ältere Menschen zu verbessern und ihnen ein dauerhaftes, integriertes und erfülltes Leben im Quartier zu ermöglichen. Das Netzwerk wird in 2023 und 2024 von den Pflegekassen nach § 45c Abs. 9 SGB XI gefördert.
Schon der Name Stiftsviertel verrät, dass soziales Engagement hier eine lange Tradition hat. Vor rund 200 Jahren wurden die ersten Stiftungen in St. Georg gegründet. Drei von ihnen sind Mitglieder im neuen Pflege-netzwerk: Die Hartwig-Hesse-Stiftung von 1826 und die Amalie Sieveking-Stiftung von 1832 bieten Service-Wohnen für Seniorinnen an. Die Hamburger Blindenstiftung von 1830 ist mit Wohngruppen und Wohnungen für sehbehinderte Menschen dabei. Dazu kommt die diakonische PD Tagespflegen gGmbH mit einer Tagespflege und das Heinrich-Sengelmann-Haus als stationäres Pflegeheim.
Der Kulturladen St. Georg ist nur auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Mitstreiter im Netzwerk, versteht er doch seine Kulturkurse, Konzerte und Ausstellungen für ältere Menschen auch als soziale Angebote. „Gerade unser Golden Sixties-Chor, die Theatergruppe Age on Stage und unsere Ausflüge mit Seniorinnen sichern die kulturelle Teilhabe von älteren Quartiersbewohner-innen. Smartphone- Kurse ermöglichen es auch Men-schen mit Mobilitätseinschränkungen, über soziale Medien mit anderen in Kontakt zu bleiben“, betont Geschäftsführerin Ellen Stein.
Ziel: lebenslanges Wohnen im Quartier
Aus dem engen Kontakt der Netzwerkbeteiligten ergeben sich viele Kooperationsmöglichkeiten für die tägliche Arbeit. Die sind im Stiftsviertel wahrlich naheliegend. Denn das kleine Quartier zwischen Berliner Tor und Steindamm, Lindenstraße und Lohmühlenpark zeichnet sich durch kurze Wege und historisch enge Bezüge aus. Hinzu kommt, dass das Stiftsviertel durch hohe Gebäude ringsum eine ruhige Oase im Großstadttrubel und gerade für ältere Menschen ein beliebter Wohnstandort ist, innenstadt-nah am Lohmühlenpark gelegen, mit entwickelter Infrastruktur und guter Verkehrsanbindung. Hier ein lebenslanges Wohnen zu ermöglichen, ist Ziel des Pflegenetzwerks.
Ambulanter Pflegedienst als wichtiger Baustein
Essentiell für das ausdifferenzierte Angebot im Stiftsviertel ist auch der Pflegedienst der Hartwig- Hesse-Stiftung. Er ist nicht nur in der eigenen Service-Wohnanlage, sondern auch bei den Bewohnerinnen der anderen Stiftungen und darüber hinaus aktiv. Mit Grundpflege, Behandlungspflege und hauswirtschaftlicher Versorgung deckt er alle ambulanten pfleger-ischen Bedarfe ab. Maik Greb, Geschäftsführer der Hartwig-Hesse-Stiftung: „Häusliche Pflege als Nahversorgung im Quartier ist ein elementarer Baustein, wenn es darum geht, individuell passende Angebote für die jeweilige Lebenslage der älteren Bewohner*-innen zu machen.
Unser Pflegedienst profitiert von der Vernetzung und den verschiedenen Einsatzorten. So können wir eine Personalausstattung vorhalten, mit denen wir die Bereitschaftsdienste gut und flexibel abdecken können.“
Angebote für Menschen mit Demenz
Auch an Demenz erkrankte Menschen profitieren von der Kooperation. Der Kulturladen St. Georg hat eine Förderung der Röder-Stiftung einge-worben, um diesen Angebote für gemein-sames Malen oder Singen machen zu können. Dazu gehen Honorarkräfte in die stationären und ambulanten Mitglieds-einrichtungen des Pflegenetzwerks. Neben dem Heinrich-Sengel-mann-Haus und der Tagespflege St. Georg profitieren also auch die beiden Wohn-Pflege-Gemeinschaften der Hartwig-Hesse-Stiftung und der Amalie-Sieveking-Stiftung vom Netzwerk. Die Einsätze werden im Pflegenetzwerk abgestimmt.
Die beiden Wohn-Pflege-Gemeinschaften sind ein weiterer Baustein dafür, dass Menschen lebenslang im Quartier bleiben können. Zielgruppe sind alle, die wegen Demenz ihren Alltag nicht mehr allein in ihrer Wohnung gestalten können. Als Alternative zur stationären Pflege finden sie hier eine Mischung aus Gemein-schaft und privaten Rückzugsräumen. Beauftragt von den Angehörigen, sichert der Pflegedienst der Hartwig-Hesse-Stiftung
die pflegerische Versorgung. Die Mitarbeiterinnen sind dabei 24 Stunden am Tag präsent.
Tagespflege als zweites Zuhause
Die PD Tagespflegen gGmbH betreibt in den Räumen der Amalie Sieveking-Stiftung die Tagespflege und ergänzt damit nicht nur das Angebot des Service- Wohnens auf dem stiftungseigenen Gelände. Sie richtet sich auch an Menschen aus dem benachbarten Hartwig-Hesse-Quartier, aus dem übrigen Stiftsviertel und darüber hinaus. Wie in einem zweiten Zuhause können ältere Menschen in wohnlicher Atmosphäre einen angenehmen Tag verbringen und Gesellschaft und Gemeinschaft erleben. Die Pflege und Betreuung ist eine gute Ergänzung zur häuslichen Pflege.
„Die Räumlichkeiten im barrierefrei umgestalteten Stiftsgebäude sind für uns wie geschaffen. Der große Wintergarten, die geschützte Freifläche davor und der Blick in das parkähnliche Gelände tragen sehr dazu bei, dass sich die Nutzer innen bei uns wohlfühlen“, beschreibt Gabriele Harloff, Leiterin der Tagespflege, das Setting.
Besonderheit: Pflegewohnung auf Zeit
Eine Besonderheit ist die Pflegewohnung auf Zeit, die die Amalie Sieveking-Stiftung 2021 in ihren Neubau in der Alexanderstraße integriert hat. Sie ist für Menschen geeignet, die zeitweilig einen erhöhten pflegerischen Unterstützungsbedarf haben. Die Wohnung ist barrierefrei, rollstuhlgerecht ausgestattet und hat ein Pflegebett. „Das innovative an unserem Konzept ist, dass die Wohnung für sehr unterschiedliche kurzfristige Bedarfe nutzbar ist. Sie ist groß genug, damit auch An- und Zugehörige mit einziehen können“, erklärt Annika Gürtler, Vorständin der Amalie Sieveking-Stiftung.
Zielgruppe sind alle, die beispielsweise nach einem Kranken-hausaufenthalt, bei einer Verschlechterung des Allgemein-zustandes oder zur Entlastung pflegender An- und Zugehöriger einen erhöhten, zeitlich begrenzten Bedarf an Hilfe haben. Die Dauer der Nutzung ist auf maximal drei Monate begrenzt. Gürtler: „Wir wollen damit helfen, die Zeit zu überbrücken, wenn beispielsweise eine Wohnung umgebaut wird, ein pflegender An- oder Zugehöriger im Urlaub ist oder noch kein Platz im Pflegeheim oder Hospiz frei ist.“
Mehr als nur Pflege: Das ganze Quartier im Blick
Das Pflegenetzwerk ist eingebettet in die AG Stiftsviertel. Dazu haben sich zusätzlich zu den schon genannten Institutionen das Sozialprojekt Hinz & Kunzt, die Baugenossenschaft bgfg, Kitas, die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde, die Interessenge-meinschaft der Gewerbetreibenden am Steindamm, der Jugendhilfeträger PINK, das Bezirksamt und die Hochschule HAW bereits 2017 zusammengeschlossen, um das Quartier gemeinsam voranzubringen.
Die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort, insbesondere der Älteren zu verbessern, hat viele Facetten, die weit über die Pflege hinausgehen. Sie betreffen auch Themen, wie Verkehr, Wohnen, Wohnumfeld und Grünflächen, Nahversorgung, Bewegung und soziale Begegnung.
Vertiefung der fachlichen Zusammenarbeit
Um weitere gemeinsame Vorhaben anzuschieben, treffen sich die Mit-glieder des Pflegenetzwerks regelmäßig zum Austausch. Auch künftig soll die fachliche Zusammenarbeit vertieft werden. Das ist nicht einfach. Alle Beteiligten sind primär darauf angewiesen, sich im Rahmen ihres eigenen Angebots und der damit verbundenen Logiken zu behaupten. Wirtschaftliche Zwänge, Fachkräftemangel, Nachfrageschwankungen und andere Faktoren setzen der freiwilligen Zusammenarbeit im Netzwerk immer wieder Grenzen. So hat die Diakoniestiftung Alt-Hamburg als Träger des Heinrich-Sengelmann-Hauses jüngst angekündigt, das stationäre Pflegeheim im Stiftsviertel Anfang 2025 aufgrund von Fachkräfte-mangel schließen zu müssen. Ein herber Einschnitt für das Stiftsviertel und das Pflegenetzwerk. Die Hürden der Zusammenarbeit zu erkennen, zu akzeptieren und dann zu überwinden, ist eine Sisyphosarbeit, der sich die Beteiligten gemeinsam stellen.