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Altwerden im Quartier Artikel Stadtentwicklung Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Gutes Wohnen im Alter (auch) für LSBTI*

Lebensort Vielfalt Südkreuz – Schwulenberatung Berlin

*** Dieter Schmidt ***

Im Oktober 2023 eröffnete die Schwulenberatung Berlin gGmbH den „Lebensort Vielfalt am Südkreuz“. Hier befindet sich der Hauptsitz der Schwulenberatung Berlin mit Büro- und Beratungsräumen sowie 69 Wohnungen, verteilt über fünf Stockwerke.

Im Haus wohnen jüngere und ältere LSBTI*, darunter Alleinstehende, Paare und Familien.
Ein Großteil der Wohnungen sind für Menschen mit Wohn-
berechtigungsschein (WBS). Es gibt zwei therapeutische Wohngemeinschaften, darunter eine speziell für lesbische Frauen mit fünf Plätzen und eine Pflege-Wohngemeinschaft, die acht Menschen ein Zuhause bietet. In den beiden Kindertagesstätten werden mehr als 90 Kinder betreut. In der Beschäftigungstagesstätte sind es bis zu 25 Menschen, die Betreuung finden können. Das Haus befindet sich mitten in einem neu entstehenden Quartier.
Dies bietet den Vorteil und die Möglichkeit einer sehr viel selbstver-ständlicheren Inklusion und Etablierung im Kiez und in der unmittelbaren Nachbarschaft!

Wie alles begann
Vor 21 Jahren, im Frühjahr 2003, entschied die Schwulenberatung Berlin auch Angebote für schwule Senioren zu entwickeln.
So entstand das „Netzwerk Anders Altern“ und aus diesem heraus die Idee zum ersten „Lebensort Vielfalt Charlottenburg“.
Die Ängste vor Einsamkeit und neuerlicher Diskriminierung im Falle einer Pflegebedürftigkeit ernst nehmend, wurde –
unter Beteiligung der potenziellen Bewohnerinnen – das Konzept zu einem Wohnprojekt für ältere und jüngere schwule Männer und auch Frauen, 2012 umgesetzt. Außerdem gibt es dort eine Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und Demenz. Aus anfänglich „wenigen“ Interessierten (20 bis 30 Personen) wurden im Laufe der Jahre immer mehr. Aktuell sind es über 800 Menschen in großer Vielfalt im Hinblick auf Aspekte wie geschlechtliche und sexuelle Identitäten, ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit, Alter, Religion, Pflegebedürftigkeit etc. Diese hohe Zahl an Interessierten ist erfreulich, bringt jedoch neue Herausforderungen mit sich. Neben dem offenkundig notwendigen Wohnraumbedarf war ebenso das Angebot für Menschen der Community mit Pflegebedarf (bundesweit nur acht Plätze) bei weitem nicht ausreichend. Es entstand die Entwicklung des Qualitätssiegels Lebensort Vielfalt®, um u.a. herkömmliche Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienste etc. für die Bedarfe der LSBTI Community und mittlerweile ebenso für die der Menschen mit Migrationsgeschichte zu sensibilisieren. (Mehr zum Qualitätssiegel und seiner Weiterentwicklung: siehe Link am Ende des Textes).
Zum anderen wurde über die Eröffnung einer weiteren Pflege WG nachgedacht und es entstand schon sehr bald nach Eröffnung des Lebensort Vielfalt Charlottenburg die Idee zu einem neuen
Lebensort Vielfalt. Dieses Mal für die gesamte Community und mit einem erweiterten Angebot wie z.B. den Kindertagesstätten.
2015 erhielt die Schwulenberatung Berlin den Zuschlag für ein Grundstück am Südkreuz in einem Konzeptverfahren.
Parallel zum neuen „Lebensort Vielfalt Südkreuz“ erweiterte sich das „Netzwerk Anders Altern“ zur Fachstelle „LSBTI, Altern und Pflege“, die sich u.a. neben Aspekten der Pflege auch dem der Teilhabe von LSBTI Seniorinnen widmet. (Mehr zur Fachstelle: siehe Link am Ende des Textes).

Vorbereitung, Einzug, heute …
Um die Mieterinnen frühzeitig in den Entstehungsprozess des neuen Lebensortes einzubinden, wurden regelmäßig „Tage der offenen Baustelle“ veranstaltet.
Außerdem konnten alle Interessierten Wohnungen nach Priorität auswählen. Das Auswahlverfahren berücksichtigte Kriterien wie
Wartelistenzugehörigkeit, geschlechtliche & sexuelle Identität, Motivation, Alter, Vorhandensein eines Wohnberechtigungsscheins, „Wunsch-Wohnung“ etc. Die in diesem Verfahren Ausgewählten wurden bereits ein Jahr vor dem Einzug zu mehreren Kennenlern-Treffen eingeladen, um Ideen des Zusammenlebens zu entwickeln. Es bildeten sich erste Interessengruppen und die Vorfreude wuchs.
Aufgrund zahlreicher Bauverzögerungen verschob sich der Einzug jedoch um rund ein Jahr, was Geduld und Nerven aller Beteiligten
in teilweise erheblichem Maße strapazierte. Umso größer die Freude, als es dann endlich soweit war! Zur Unterstützung der Hausgemeinschaft wurden und werden die „Kennenlerntreffen“ als nunmehr „Mieterinnen- Treffen“ fortgeführt und auch darüber hinaus begleitende Unterstützungsangebote seitens der Schwulenberatung bereitgehalten. Seit dem Einzug der rund 100 Mieterinnen zeigen sich natürlich auch die Herausforderungen im
Miteinander. Wie diversitätssensibel, wie respektvoll, wie achtsam sind die Bewohnenden im jetzt (all)täglichen Umgang miteinander?
Welche Berührungsängste gibt es? Wie kommt es zu gemeinsamen Entscheidungen was z.B. die Gestaltung des Gemeinschaftsraumes angeht? Reibung bleibt da nicht aus!
Doch zeigen die mittlerweile zahlreich geführten Interviews mit unterschiedlichen Medienvertreter*innen durchweg ein
positives Bild und eine große Zufriedenheit der Bewohnenden.

Finanzen
Insbesondere für die Realisierung des ersten Lebensort Vielfalt Charlottenburg war es von größter Wichtigkeit, dass die Stiftung
Deutsche Klassenlotterie mit ihrer finanziellen Unterstützung in Höhe von drei Millionen Euro – und damit knapp 50 Prozent der Gesamtkosten – die Grundlage dafür schuf, dass sich auch die Hausbank der Schwulenberatung zur Vergabe eines Kredites an
einen gemeinnützigen Träger bereit erklärte.
Für den Lebensort Vielfalt Südkreuz war es dann – „trotz“ eines Volumens von 25,8 Millionen Euro – aufgrund der erfolgreichen Umsetzung des ersten Wohnbauprojektes vergleichsweise leicht,
weitere Kredite bewilligt zu bekommen. Aber, wie auch beim ersten Hausprojekt, wäre es ohne all die großzügigen Spenden, Zuwendungen, Förderungen etc. nicht machbar gewesen!

Fazit
Nach nunmehr einem Jahr Erfahrung im Lebensort Vielfalt Südkreuz und mehr als 12 Jahren im Haus in Charlottenburg fällt das Fazit zufriedenstellend aus.
Es gelingt, Teilhabe für alle Bewohnenden – auch für die der unterschiedlichen Wohngemeinschaften – durch die selbstverständlich gelebte Inklusion im Lebensort Vielfalt mit seinem generationsübergreifenden Wohnen und die Angebote der Schwulenberatung Berlin für Klientinnen von außerhalb ebenso wie für die Bewohner innen des Hauses in besonderer Weise zu unterstützen und umzusetzen. Wichtige Aspekte sind dabei aus unserer Sicht:

• die Einbeziehung der zukünftigen Mieterinnen
schon vor dem Einzug
• die Inklusion der Wohngemeinschaften – Pflege & Therapie. Die Bewohnenden sind Mieterinnen wie alle anderen.
• Die Abbildung unterschiedlicher Diversitätsaspekte im Haus.
• Die Möglichkeit, je nach Lebenssituation, von eigener Wohnung in die Pflege WG umzusiedeln als auch vice versa.
(Natürlich immer in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit.)
• Die Anbindung an und Unterstützung durch die Schwulenberatung.
• Die Anbindung an die Nachbarschaft z.B. durch die gemeinsame Nutzung des großen, für alle Häuser zugänglichen Innenhofes.
Dies bietet selbstverständlichen Raum zum Miteinander.

Übertragbarkeit
• „Bei uns gibt es diesen besonderen Bedarf nicht!“ Wie bereits erwähnt, waren es 2005 nur wenige und, damals vor allem schwule Männer, die in ein „schwules Wohnprojekt“ einziehen wollten. Gleichzeitig wussten die Mitarbeitenden des Netzwerk Anders Altern jedoch um die Ängste und den Wunsch nach einem „sicheren Ort“ zum Leben. So fiel die Entscheidung, diesen Ort zu kreieren, diese Utopie wahr werden zu lassen, immer in der Überzeugung, dass es den Bedarf gibt und die Menschen kommen werden. Die letzten Jahre haben uns recht gegeben.
• Es braucht Unterstützerinnen aus Politik, Öffentlichkeit, Medien etc., ohne die ist es nicht möglich. Und diese Unterstützung bedarf einer beharrlichen Erarbeitung.
• Auch die Schwulenberatung Berlin hat – vor über 40 Jahren – einmal ganz klein angefangen und über die Zeit hinweg ihr Angebot erweitert und professionalisiert und damit auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen, um sich an diese großen Projekte wagen zu können.
• Ohne großzügige finanzielle Unterstützung wäre eine Realisierung nicht möglich gewesen!! Denn das Vertrauen, dass auch ein gemeinnütziger Träger solche Projekte „stemmen“ kann, war mitnichten vorhanden.
• Auch in anderen Ländern gibt es Beispiele, z.B. in Schweden mit dem Mieterverein „Regnbågen“. Seit 2013 mietet der Verein 28 Wohnungen vom städtischen Immobilienunternehmen Micasa Fastigheter an und vermietet die Wohnungen wiederum an seine Mitglieder. Eine Seniorenresidenz verfügt beispielsweise über drei Etagen in der Sandhamnsgatan 6 am Gärdet in Stockholm.

Ausblick
Wie wollen wir alt werden? Im Alter wohnen und pflegerisch versorgt sein? Wie lässt sich Zusammenleben gestalten und der Einsamkeit begegnen? Welche Alternativen jenseits der herkömmlichen Strukturen tun sich auf? Lebensort Vielfalt kann einen Ansatz zu neuen Wohn- und Pflegeformen – ganz unabhängig von sexueller und geschlechtlicher Identität bieten, in denen Alt und Jung in Vielfalt zusammenleben, wo nachbarschaftliches Engagement und professionelle Unterstützung viel stärker als bisher Hand in Hand gehen. Tatsächlich werden in Lyon und in Straßburg bereits zwei „Maison de la Diversite“ für LSBT nach dem Vorbild der beiden Lebensort Vielfalt in Berlin entstehen.