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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Der dritte Weg

Wohn-Pflege-Gemeinschaften für Menschen mit Demenz

*** Professor Klaus Dörner im Gespräch mit Ulrike Petersen ***

„Die Sicherung der Pflege für behinderte und hochbetagte Menschen ist eines der wichtigsten Zukunftsthemen in unserer Gesellschaft. Die Familienstrukturen ändern sich und mit ihnen die Formen von Verantwortungsübernahme von Familien für ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Pflege in Institutionen wird immer nur in einem begrenzten Umfang möglich sein – aus ökonomischen und kulturellen Gründen. Insofern ist unsere Gesellschaft darauf verwiesen, nicht nur in der Nische von Modellprojekten, sondern in der Breite der Versorgungslandschaft neue Formen der Begleitung und Pflege pflegebedürftiger Menschen zu schaffen.“

Freiburger Memorandum*, 2006

Die demographische Entwicklung lässt einen wachsenden Bedarf für kleinteilige Wohn-Pflege-Angebote vermuten, stellen sie doch eine Alternative zum herkömmlichen Pflegeheim dar und entlasten pflegende Angehörige. Auch in Hamburg,wo es bislang nur drei ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz gibt, entstehen in den nächsten Monaten weitere Projekte. Um diesen Prozess zu befördern, wurde im Dezember 2005 unter der Trägerschaft von STATTBAU und gefördert durch die Sozialbehörde die Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften eingerichtet. Im Gespräch mit Professor Klaus Dörner, der sich bundesweit für Wohngruppen-Projekte engagiert und zu den Unterzeichnern des Freiburger Memorandums gehört, geht es um die Frage, wie die Entwicklung in Hamburg gestärkt werden kann.

Freiburger Modell: dritter Weg bei Pflegebedürftigkeit

Herr Professor Dörner, Sie haben das Freiburger Memorandum unterzeichnet. Worum geht es dabei?

Dörner: Der Kern dieser Denkschrift ist, dass Leute in Freiburg sich Gedanken über die zunehmende Zahl von alterspflegebedürftigen und auch dementen Menschen gemacht haben: Wie ist mit diesen Menschen angemessen umzugehen? Da das alte, früher bewährte Pflegesystem, entweder in der Wohnung oder im Altenpflegeheim, nicht mehr länger reicht und nicht zukunftsfähig ist, muss man gewissermaßen dazwischen einen dritten Weg finden. Da ist natürlich von den früheren Erfahrungen mit psychisch Kranken und geistig Behinderten gelernt worden. Man ist gut beraten, wenn man möglichst flächendeckend auf Nachbarschaft oder Stadtviertel orientierte Wohngruppen zustande bringt. Damit haben die Freiburger schon angefangen. Aus dieser Arbeit ist, quasi als Zwischenbilanz, dieses Memorandum zustande gekommen. Es bündelt die bisherigen Erfahrungen, die man dort gemacht hat.

In Hamburg gibt es bisher nur drei Projekte für Menschen mit Demenz. Was können wir tun, damit es voran geht, denn Hamburg hinkt bundesweit gesehen hinterher?

Dörner: Ja, das ist schon erstaunlich. Wenn man sich Städte wie Berlin, München oder auch speziell Bielefeld anguckt, dann sind diese Städte ja sehr viel wacher und zwar alle, die da Verantwortung für diese Städte tragen. Und das ist in Hamburg weniger der Fall. Möglicherweise, weil man sich in Hamburg auf dieser anderen kulturellen Entwicklung ausgeruht hat, den gemeinschaftlichen Wohnprojekten, dem Siedeln von generationsübergreifenden Gemeinschaften. Da ist man ja hier sehr viel weiter, liegt schon eher im Spitzenbereich in Deutschland. Vielleicht hat man gedacht, damit hätte man die Probleme schon gelöst und das ist natürlich nicht der Fall. Alle diese Projektgemeinschaften stoßen ja doch immer mal wieder wegen der Pflegeintensität von bestimmten Menschen, gerade eben auch von dementen Menschen, an ihre Grenzen, so dass man dann das frühere Versprechen wechselseitiger Hilfe in jeder Situation nicht mehr einhalten kann. Das ist ja auch moralisch etwas Fragwürdiges, es macht jedenfalls keine guten Gefühle. Wie wäre es denn, wenn sich vor allem größere Siedlungsgemeinschaften von vornherein eine,von mir aus auch räumlich getrennte Wohngruppe für Alterspflegebedürftige, gewissermaßen zu ihrem Konzept hinzunehmen. Also, zum Beispiel, Menschen im dritten Lebensabschnitt unterstützen Menschen im vierten Lebensabschnitt. Das wäre, denke ich mal, ein weiterer Weg.

Hamburg: Haushaltsgemeinschaften und vierter Lebensabschnitt

Man muss aber auch sehen, dass man getrennt davon diesen anderen, in Deutschland sich nun rapide verbreitenden, Weg der ambulanten Wohngruppen geht. Ich bezeichne sie gerne als nachbarschaftsorientierte Haushaltsgemeinschaft. Jeder einzelne hat ja in der Vergangenheit mal einen Haushalt betrieben und wenn das irgendwann allein nicht mehr geht, geht es eben gemeinschaftlich in einer Wohngruppe. Deswegen ist Haushaltsgemeinschaft ein ganz plastischer Begriff, den ich liebe. Es wird daran deutlich, was eigentlich der Kern davon ist und was den Charme darstellt. Wenn sich zunehmend in Hamburg herumspricht, was immer einem im Laufe des Älterwerdens widerfährt, auch wenn man sich wirklich mal in die Demenz hinein entwickle, dann habe ich einen dritten Weg, den ich gehen kann, weil es möglicherweise in der Vertrautheit des Viertels eine solche ambulante Wohnpflegegruppe gibt. Das ist eine Erfahrung, die man auch nachweisen kann, dass dort, wo die Entwicklung schon relativ fortgeschritten ist, wie in Bielefeld, sich die Bürger im Allgemeinen auch damit identifizieren können.

Wohnviertel mit „Pflegeherz“

Die Bürger eines Viertels können sagen, diese ambulante Wohngruppe, gehört zu uns. Das ist gewissermaßen so ein Herzstück von unserem Integrationsbestreben, dass alle Bürger, was immer ihnen auch passiert, in ihrem Viertel wohnen bleiben können, auch, wenn sie dement werden. Ich habe dafür mal den Begriff „Pflegeherz“ erfunden, ein Viertel hat ein Pflegeherz. Das hat Vorteile sowohl für die Professionellen wie aber auch für die Bürger, denn die geteilte Verantwortung kann ja auch umso besser genossen werden.

Im Vergleich zu den anderen Städten mangelt es in Hamburg an geeignetem Wohnraum. Wie kann die Wohnungswirtschaft überzeugt werden, dass auch sie davon „profitiert“, wenn in ihrem Bestand oder Neubau Wohn-Pflege-Gemeinschaften entstehen?

Dörner: Nicht nur in Bielefeld, aber auch anderswo haben Wohnungsbaugesellschaften oder Wohnungsbaugenossenschaften inzwischen gewissermaßen dieses andere Verständnis, auch ein anderes Wirtschaftsverständnis: dass sie nur zukunftsfähig sind, wenn sie nicht wie früher immer dann, wenn Menschen pflegebedürftig sind, versuchen, sie loszuwerden. Wenn sie versuchen, sie gerade dann zu halten. Das heißt von vornherein, eben auch für Pflegebedürftigkeit und Demenz in der entsprechenden Größenordnung zu bauen, damit sie immer auf der gesunden Seite sind und auf diese Weise auch eine Attraktivität für die entsprechenden Kunden bekommen. Es ist erstaunlich, dass es sich hier in Hamburg noch nicht so herumgesprochen hat, dass eine Wohnungsbaugenossenschaft, wenn sie an ihre eigene Zukunft denkt, geradezu verpflichtet wäre, sich gerade um die Pflegebedürftigen zu bemühen. Ich frage mich natürlich, ob nicht hier auch von Seiten der Stadt, also der Politik, mit einem gewissen Nachdruck gehandelt werden müsste. Es gibt doch Möglichkeiten, zwar nicht direkte, aber doch indirekte Einflussmöglichkeiten, wie man Wohnungsbaugesellschaften dazu bringen könnte, sich verstärkt in diese Richtung zu bewegen.

Wachsender Pflegebedarf ist Zukunftsthema für Wohnungswirtschaft

Wir wünschen uns in Hamburg eine Vielfalt neuer Wohn-Pflege-Projekte verteilt über die Stadt. Das bedeutet, dass die Initiative sowohl von Angehörigen, aber auch von Stiftungen, Verbänden und Pflegediensten ausgehen kann. Was halten Sie davon?

Dörner: Bei der Frage, wer soll bevorzugter Träger für solche ambulanten, nachbarschaftsorientierten Wohngruppen sein, ist es natürlich vom bürgerschaftlichen Engagement her besonders reizvoll, wenn es die Betroffenen, die Angehörigen und die gesetzlichen Betreuer sind, die unmittelbar ein Interesse an den Betreuten haben.

Das hat zwar Vorteile, aber auch Nachteile, weil dann natürlich nur solche Pflegebedürftigen reinkommen, die entsprechend sympathisch sind. Die Schwierigen, die fallen durch die Ritzen und deswegen würde ich mir nicht nur wünschen, sondern es eigentlich von einer bürgerorientierten Kommunalverwaltung verlangen, dass in einem bestimmten Ausmaß die Kommune selber Träger wird, um diesen Nachteil auszugleichen.

Um Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen alle eine gleiche Chance haben, die schwierigen und die leichten Dementen und die sympathischen, die unsympathischen, die Armen und die Reichen und das kann eigentlich nur die Kommunalverwaltung garantieren. Hier muss eine Versorgungsgerechtigkeit von vornherein eingeplant werden, weil es sonst ein nettes Spielzeug für besser betuchte Bürger bleibt und das darf es nicht sein.

Kommunen in der Pflicht

Wie können neu entstehende Projekte begleitet werden, damit Werte wie Selbstbestimmung, Integration, Mitwirkung und Lebensqualität, die wir wünschen, erfüllt werden. Kann bzw. muss man von außen stützen?

Dörner: Ja. Wahrscheinlich wird man das brauchen. Aber zunächst einmal würde ich eher raten, nicht so schnell zuviel in der Richtung zu machen, sondern sich lieber erst mal so zehn Jahre lang eine Experimentierphase zu gönnen, wo möglichst viele Gruppen ihre eigenen Erfahrungen machen können.

Sicherlich können auch schnell schlechte Erfahrungen dabei vorkommen, das ist ganz klar. Die muss man aber vielleicht in der Anfangszeit in Kauf nehmen, um dann die vielen guten Erfahrungen einheimsen zu können, die nicht kämen, wenn man zu früh mit entsprechenden Qualitätsvorgaben standardisiert. Dadurch schneidet man sich etwas ab.

Experimentierphase notwendig

Das andere ist, sagen wir mal, dass auf die Dauer Strukturen gefunden werden müssen, die solche Aktivitäten begleiten. Das würde ich mir natürlich wünschen. Es sollte Nachbarschaftsvereine, Krankenvereine, Pflegevereine, wie immer sie sich auch nennen, geben, also Bürger, die sich für eine solche Wohngruppe engagieren und auf diese Weise den notwendigen Transfer zwischen bürgerschaftlichem und professionellem Engagement verkörpern. Sei es in dem Sinne, dass sie moralisch unterstützen, von mir aus auch kontrollieren, aber zum anderen auch die Möglichkeit haben, sei es teilzeitlich oder stundenweise oder auch ehrenamtlich, sich in irgendeiner Form in dem Betrieb in dieser Wohngruppe zu engagieren. Es wird sich ja im Laufe der Zeit auch als ökonomisch notwendig herausstellen, dass man im gewissen Umfang, sagen wir mal, im größeren Umfang als bisher, diese Wohngruppe nicht allein professionell betreiben kann. Das ist natürlich wiederum letztlich auch im Interesse der Bürger selbst, denn wir müssen davon ausgehen, dass sich immer weniger Haushalte allein über Erwerbsarbeit finanzieren können. Diese sind gezwungen, Zuverdienstmöglichkeiten zu schaffen und die sind natürlich im sozialen Bereich am besten angesiedelt.

Ulrike Petersen: Vielen Dank, Herr Dörner, für dieses Gespräch.

Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften

Die Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften bietet Angehörigen und gesetzlichen Betreuern pflegebedürftiger Menschen mit Demenz sowie Institutionen Information und Beratung zu neuen Wohn-und Versorgungsformen, fachliche Unterstützung bei Projektgründung und Vermittlung freier Wohnplätze in bestehenden bzw. geplanten Wohngruppen.

AnsprechpartnerInnen: Ulrike Petersen und Josef Bura

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 13(2006), Hamburg