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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

„Es findet sich so Stück für Stück…“

*** Interview: Ulrike Petersen ***

Im Januar 2004 wurde in Dulsberg, im „Haus am Kanal“, eine Wohngemeinschaft für sieben demenziell erkrankte Menschen eröffnet. Hier leben sechs Frauen und ein Mann im Alter von 68 bis 94 Jahren in einer wohnlichen und gemeinschaftsorientierten Atmosphäre. Sie können sich, je nach persönlichen Fähigkeiten und Vorlieben an der Alltagsgestaltung beteiligen und werden durch den ambulanten Pflegedienst der Hamburger Gesundheitshilfe e.V. rund um die Uhr versorgt. Jeder ist Mieter eines Appartements; zusätzlich gibt es einen großzügigen Gemeinschaftsraum. Die Angehörigen dieser an Demenz erkrankten Menschen haben an der Entwicklung der Wohngemeinschaft zusammen mit dem Träger und dem Pflegedienst maßgeblich mitgewirkt und begleiten sie nun in ihrem Alltag und allen wichtigen Entscheidungen. Träger des „Haus am Kanal“, in dem auch eine Tagespflege und eine Seniorenhausgemeinschaft ihr neues Zuhause gefunden haben, ist Alter & Pflege.

Diese für Hamburg neuartige Wohn- und Versorgungsform, für die aufgrund der demographischen Entwicklung ein wachsender Bedarf zu verzeichnen ist, stellt eine Alternative zum Pflegeheim dar und entlastet pflegende Angehörige. In einem zweistündigen Gespräch, das hier auszugsweise wieder gegeben wird, berichten zwei Angehörige über die Entstehung und die bisherigen praktischen Erfahrungen des Projekts, geben Tipps und Anregungen für interessierte Angehörige und Pflegedienste, damit sich in Zukunft mehr Initiativen dieser Art gründen.

Herr D.: Ich habe meine Mutter zunächst drei Jahre überwiegend hauswirtschaftlich betreut, indem ich den Haushalt tagsüber geführt habe. Das war aufgrund ihres körperlichen Abbaus nötig. Nach einem Krankenhausaufenthalt wurde eine Demenzerkrankung deutlich, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung erforderlich machte. Ängste ließen sie nachts wandern und trieben sie auch aus der Wohnung. Daraufhin habe ich mich umgesehen und bekam den Tipp mit dem Haus am Kanal. Ja, und dann habe ich die Angehörigengruppe kennen gelernt und habe seit August, Anfang September 2003 mitgearbeitet.

Herr S.: Auch wir mussten feststellen, dass unsere Mutter Demenz hatte,Alzheimer ist diagnostiziert worden. Wir haben dann nach einer Möglichkeit gesucht. Was wir nicht wollten, war, sie in einer Heimsituation abgeben und dort verwalten zu lassen. Und wir haben nach Alternativen gesucht und während dieser Suche haben wir durch einen Zeitungsartikel vom Projekt Haus am Kanal erfahren und sind sofort dorthin und haben dann von Anfang an dort mitgearbeitet. Das war im Herbst 2003, der Rohbau des Hauses war schon fertig.

Umzug, Eingewöhnung und Alltag

Herr S.: Meine Mutter zu überzeugen, umzuziehen, ist fast unmöglich gewesen. Es traten Angstzustände bei ihr auf. Sie wollte ihre häusliche Umgebung nicht verlassen. Wir haben keinen Druck ausgeübt, aber sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet. Aber sie ist dort natürlich nicht angekommen. Sie hat die Wohnung nicht angenommen. Das hat vier Monate gebraucht.

Herr D.: Bei meiner Mutter war es ähnlich. Ich hätte es noch eine kurze Zeit machen können; drei, vier Monate vielleicht noch, aber rund um die Uhr und nachts fast nicht schlafen können oder nur im Halbschlaf, weil ich auf alle Fälle vermeiden wollte, dass sie stürzt. Ja, ich musste es dann – auch in meinem eigenen Interesse – entscheiden.

Herr S.: Wir sind jetzt über diese Lösung unwahrscheinlich glücklich, dass wir sie unterbringen konnten, in eine Situation, auf die wir selbst Einfluss nehmen können. Dass sie nicht irgendwo oder irgendwie verwaltet wird.

Herr D.: Es wird ja schon Wert drauf gelegt, dass die Gemeinschaft möglichst zusammen ist und gemeinsam den Tag verlebt und auch mal etwas unternimmt. Was natürlich nicht einfach ist, das ist ja ganz klar.

Herr S.: Und jetzt passiert eben das, was man Learning bei Doing nennt… denn die Situation also, mit dementen Menschen zusammen zu sein, das kennen wir aus der Familie… Aber jetzt eine Gruppe, eine Wohngemeinschaft, das ist etwas derartig Neues, da gibt es für uns keine Erfahrung.

Als Angehörige in der Verantwortung

Herr D.: Zunächst mal, als Angehörige der Bewohner engagieren wir den Pflegedienst, besprechen uns mit dem Team und nehmen im Wechsel an den wöchentlichen Teambesprechungen teil.

Herr S.: Das Umfeld wird von uns organisiert. Wir möchten, dass es so oder so aussieht und deshalb schalten wir uns ein. Wir haben zwei Sprecher, paritätisch, gleichberechtigt, sie vertreten uns nach außen. Wir halten die Verbindungen zum Pflegedienst und zur Leitung der Hamburger Gesundheitshilfe, zu Alter und Pflege und so weiter. Wir machen auch Öffentlichkeitsarbeit, u. a. mit Alter und Pflege und der Alzheimer Gesellschaft, damit das Projekt bekannter wird, weil wir der Meinung sind, es ist jetzt eines von den Projekten, die wir uns wünschen, die für demente Menschen gemacht werden könnten. Damit viele Menschen wissen, dass das möglich ist, versuchen wir in die Öffentlichkeit zu gehen. Einmal im Monat treffen wir uns als Angehörige. Vorher haben wir uns öfter getroffen, weil es einfach nötig war. Am Anfang, um alles zu organisieren, haben wir uns wöchentlich und kurzfristig getroffen, wenn es erforderlich war.

Es soll nicht sein wie im Heim

Herr D.: Angehörige müssen sich engagieren für ein Projekt dieser Art. Das ist unausweichlich. Im Interesse meiner Mutter gehe ich fast täglich hin, gehe mit ihr spazieren und dergleichen. Sie wartet ja auch auf mich.

Herr S.: Jeder versucht, es so intensiv zu machen,wie es notwendig und möglich ist. Weil alle auch sehen, dass es notwendig ist, dass wir uns einbringen, weil sonst der Charakter der WG verloren geht. Die dementen Menschen, die dort wohnen, kommunizieren auf ihre Art und Weise. Deshalb sind wir als Angehörige gefordert, ihre Interessen wahrzunehmen, damit unsere Angehörigen noch weitgehend selbstbestimmt leben können. Ansonsten ist das eben ein Heim und genau das wollen wir nicht.

Herr D.: Zwischen den Angehörigen muss die Chemie stimmen. Jemand, der die anderen nicht mag, bringt sich auch nicht ein.

Herr S. und Herr D.: Man muss sich schon einbringen, alle müssen sich schon regen. Und wenn Menschen das in dem Maße nicht können, müssen sie sich überlegen, dass sie etwas anderes organisieren. Das ist einfach so.

Verständnis für Demente

Herr S.: Pflegedienste müssen auf so etwas vorbereitet werden, auch in der Ausbildung. Das kann man nicht kurzfristig machen.

Herr D.: Ja, ich muss sagen, dass Demente kaum Verständnis finden in der Öffentlichkeit, sowohl in der Nachbarschaft als auch im Wartezimmer oder wo es auch immer sein mag. Die Öffentlichkeit hat da wenig Verständnis. Wahrscheinlich erst, wenn man selbst in die Situation kommt oder ein Angehöriger. Das beklage ich sehr.

Herr S.: Also, es ist nicht das Weglaufen, es sind keine anderen körperlichen Gebrechen, wie Inkontinenz oder so, das alles ist es nicht, das kann aufgefangen werden. Was nicht aufgefangen werden kann, ist Aggressivität, wenn sie zu stark ist, wenn sie nicht eingebunden werden kann, wenn der Beruhigungseffekt nicht mehr läuft, wenn das Personal überfordert ist. Weil es dann die ganze Gruppe sprengt.

Übersichtlich und überschaubar

Herr S.: Zur Anzahl der Bewohner würde ich sagen, es sollten nicht mehr als zehn sein. Also das wäre das Maximum. Und dann zum Baulichen: Man kann Altbauten nehmen, aber man muss immer sehen, wie der Schnitt der Wohnungen ist. So, wie es bei uns organisiert ist, ist es das Ideale. Das heißt ein zentraler Raum, von dem alle anderen Wohnungen oder Zimmer, wie in der WG, abgehen Es ist bei dementen Menschen so, sie dürfen keine langen Gänge haben, es darf dahinten nicht schummrig werden, es muss eine bestimmte Helligkeit sein, ansonsten setzt die Angst wieder ein. Die Angst und Unruhe. Aber es sollten für meine Begriffe auch nicht mehr als zehn sein. Dann wird es zu unübersichtlich, es ist zu viel Bewegung, weil dann auch mehr Personal da sein muss. Alles das ist etwas, was das Wohlbefinden der Bewohner beeinträchtigt.

Herr D.: Ich sehe es genauso; auch hinsichtlich der für den Pflegedienst anfallenden Kosten. Ja, eine Wohneinheit von acht bis zehn Personen ist für den Pflegedienst am kostengünstigsten. Das ist meines Erachtens sehr wichtig. Das muss mit berücksichtig werden.

Herr S.: Für meine Begriffe muss es weitergehen. Denn Menschen, die wie unsere Verwandten dement sind, können in einer normalen Mischform, in einem Wohnblock, nicht wohnen, weil sie sich selbst isolieren. Sie ziehen sich zurück und lassen sich auch nicht helfen. Man kann sagen: Die Verunsicherung der Erkrankten und ihrer Umwelt führt meistens in die soziale Isolation.

Das Interview führte Ulrike Petersen. Sie ist Politologin/Gerontologin und Mitarbeiterin in der Beratungsstelle für Haus und Wohngemeinschaften, Treffpunkt St. Georg

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 11(2004), Hamburg