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Hamburger Genossenschaft – Nr. 1 in Deutschland

*** von Dr. Helmuth Rose ***

Hamburg hat nicht nur die meisten Wohnprojekte in Deutschland, wie vielen schon bekannt ist, sondern auch die für die Wohnungswirtschaft zukunftsweisenden Projekte junger Genossenschaften! Nachbarschaftliche Projekte werden mit Auszeichnungen für ihre Arbeit belohnt, wie in diesem Fall vom Gesamtverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, dem GdW.

Am 12. Juni 2006 wurde vom Präsidenten des GdW, Lutz Freitag, anlässlich des Kongresses der Aareon AG in Garmisch-Partenkirchen der Zukunftspreis der Deutschen Immobilienwirtschaft „Wohnen im Wandel“ übergeben.

Zwei Hamburger Wohnungsbauunternehmen wurden als Preisträger ausgezeichnet – und zwar zwei Genossenschaften!

In der Kategorie Kundenorientierung erhielt der Bau- und Sparverein Altona aus Hamburg den 2. Preis. In der Kategorie Nachbarschaft ging der 1. Preis an die kleine Bau- und Wohngenossenschaft Brachvogel eG aus Hamburg, die zwei kleine Wohnanlagen in Schnelsen und Lurup mit insgesamt 67 Wohneinheiten gebaut hat und verwaltet und weitere 32 Wohneinheiten in Iserbrook bauen will.

In der Laudatio zur Preisverleihung hob der Leiter der Jury, Prof. Hansjörg Bach von der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen-Geislingen, hervor, dass es der Brachvogel eG gelungen ist, ein auch für andere Wohnungsunternehmen übertragungsfähiges Konzept für nachhaltige Nachbarschaftsentwicklung zu erarbeiten und zudem im Alltag des Zusammenlebens erfolgreich umzusetzen.

Schritt für Schritt zur Entwicklung von Nachbarschaft

Das Konzept der Brachvogel eG geht davon aus, dass Nachbarschaftsentwicklung nicht durch Proklamation oder allein durch Appelle zustande kommt, sondern ein dynamischer Prozess ist, bei dem langsam Schritt für Schritt weiterführende Erfahrungen gemacht werden, die Beteiligte mit unterschiedlicher Herkunft, Alter, Familienstand, Ausbildung und Einkommen ermutigen, sich zu engagieren. Eine stabile Nachbarschaft ist in diesem Sinne eine Erfahrungsgemeinschaft mit emotional geprägtem „Wir-Gefühl“, die sich durch spontane wie auch regelmäßige Begegnungen fortentwickelt.

Nachbarschaft entsteht durch Engagement und Kommunikation

Zu den grundlegenden Rahmenbedingungen gehört ein gemeinsam durch Gespräche und Diskussionen eingeübter kollektiver Kommunikationsstil, der durch Zuhören können und wollen, Bereitschaft für Perspektivenwechsel, begrenzte sachorientierte Redebeiträge sowie Erkennen von Konsens- und Kompromissmöglichkeiten gekennzeichnet ist.

Wichtig ist ebenso, dass das Engagement freiwillig ist und es vielfältige niedrigschwellige Anlässe gibt, sich kurzfristig wie auch dauerhaft zu beteiligen, je nach Lebensphase, Bedürfnissen, Wünschen und persönlicher Situation, z. B. bei Wohnprojektversammlungen, in Arbeitsgruppen, bei Film- und Tanzveranstaltungen, Festen, Spielnachmittagen, Leseabenden, Kinderzirkus, gemeinsamem Grillen, Gartentagen, Fahrradtouren und spontanen Treffen. Dadurch entsteht bei gegenseitiger Verlässlichkeit nach und nach eine kollektive Identität stiftende Gemeinschaftskultur mit mehreren vertraulichen Subkulturen, die durch Austauschbeziehungen untereinander geprägt sind.

Bestand hat die Nachbarschaft, wie Brachvogel eG lehrt, dann, wenn zwei Drittel der Erwachsenen eines Wohnprojektes sich spontan einlassen und davon ungefähr die Hälfte auch bei der Bewältigung unumgänglicher Aufgaben zur Verwaltung, Pflege und Wartung aktiv sind. Wichtig ist vor allem aber, dass die Aktiven den Inaktiven ihre Passivität nicht (negativ) anrechnen, sondern dagegen die höhere Lebensqualität in der Folge belebender Kontakte und gemeinsamer Aktivitäten für sich selbst als genügende und zudem bereichernde Aufwandsentschädigung ansehen.

Engagement hilft sparen

Aufgrund des freiwilligen Engagements ergeben sich für das Wohnungsunternehmen durchaus nennenswerte betriebswirtschaftliche Effekte wie geringere Verwaltungs- und Wohnnebenkosten. Es entstehen weniger Sachkosten in Folge verringerter Rechtsstreitigkeiten, kürzerer Leerstandszeiten, kaum nennenswerter Fluktuation und schnellerer Wiedervermietung. Gartenarbeit und kleine Reparaturen erfolgen vollständig oder weitgehend durch die Bewohner. Durch ihre Kontrolle der Bestände wird die vorbeugende Wartung gestärkt. Der Personalaufwand für Sozialmanagement, Freizeitund Servicemanagement bleibt überschaubar. Durch die Kosteneinsparungen lassen sich Sachausgaben für Aktivitäten und die Nutzung von Gemeinschaftsräumen bei gleichzeitig steigender Wohnqualität decken.

Wie sich nicht nur bei der Brachvogel eG, sondern auch bei anderen jungen Wohngenossenschaften zeigt, sind die Promotoren der Entwicklung neben einem zu meist überschaubaren betriebswirtschaftlich, haustechnisch und organisatorisch kompetenten Steuerungsteam vornehmlich die jungen Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehende, die alle längerfristige Perspektiven für ein Zusammenleben haben, und Ältere, die verbleiben wollen.

Da Jung und Alt zusammen wohnen, Familien und Alleinerziehende die Kinder betreuen sowie Migranten und Menschen mit Behinderungen integriert sind, kann eine lebendige und funktionierende Nachbarschaft von Wohnprojekten auch als ein prototypisches Lernfeld einer auf ehrenamtlichem Engagement fußenden Zivilgesellschaft angesehen werden.

Insofern ist das Konzept der Brachvogel eG in mehrerer Hinsicht zukunftsweisend, zum einen, wie die Wohnungswirtschaft die Herausforderungen durch den demografischen und sozialen Wandel bewältigen kann, zum anderen, wie sie dazu beitragen kann, dass Stadtquartiere stabil bleiben und sich lebensfähige soziale Netzwerke als Infrastrukturen für die Zivilgesellschaft etablieren.

Dr. Helmuth Rose ist im Vorstand der Brachvogelgenossenschaft und Bewohner des ersten Projekts.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 13(2006), Hamburg