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„Mehr als wohnen“

Bewerbungstext für den Klaus Novy Preis

WIE WOLLEN WIR IN ZUKUNFT LEBEN? Diese Frage inspirierte rund 30 Züricher Wohnungsbaugenossenschaften und führte zur Gründung der Baugenossenschaft MEHR ALS WOHNEN.

Initialzündung war das Jahr 2007, in dem der gemeinnützige Wohnungsbau in Zürich sein 100-jähriges Jubiläum feierte. Eine Erfolgsgeschichte, die den Charakter der Stadt entscheidend prägte: ca. 20% der rund 220.000 Wohnungen in Zürich gehören Genossenschaften und sind gemeinnützig, das heißt: preisgünstige Mietzinse, Renditezielen und der Spekulation entzogen.

Nach Jahren des Stillstands setzte ab Mitte der 90-Jahre bei einigen traditionellen Züricher Genossenschaften wieder rege neue Bautätigkeit ein. Parallel entstanden in Zürich eine Reihe innovativer Gemeinschaftsprojekte wie die Siedlung der Genossenschaften Kraftwerk 1, Dreieck oder Kalkbreite. Damit generierten Genossenschaften neue Erfahrungen im kostengünstigen Bauen und gemeinschaftlich geprägten Wohnen. MEHR ALS WOHNEN entstand aus dem Impuls, dieses breit gefächerte Know-how zusammenfließen zu lassen, neue Experimente zu wagen und Erfahrungen weiterzugeben – die Idee einer Innovations- und Lernplattform für den gemeinnützigen Wohnungsbau war geboren.

MEHR ALS WOHNEN plante und realisierte von 2008 – 2015 ein erstes Leuchtturmprojekt einer ganzheitlich verstandenen Nachhaltigkeit: das Hunziker Areal. Der Visionäre, urbane Quartierteil mitten im Entwicklungsgebiet Zürich Nord wurde auf einer 4 ha großen Industriebrache realisiert, welche die Stadt Zürich der Genossenschaft im Baurecht (in Deutschland Erbbaurecht) abgegeben hat.

Heute wird MEHR ALS WOHNEN durch 55 Züricher Wohnbaugenossenschaften sowie die Bewohnenden des Hunziker Areals und weiteren juristischen und privaten Personen getragen. Zahlreiche Fallstudien über das Areal vertiefend breit gefächerte Themen vom Einsatz zukunftstauglicher Gebäudetechnologie über sozial nachhaltige Quartiersentwicklung bis hin zur Auseinandersetzung mit sozial utopischen Themen. Die ausgewerteten Erkenntnisse stellt MEHR ALS WOHNEN dem Fachpublikum sowie der interessierten Öffentlichkeit auf seiner Website oder im Rahmen von Fachveranstaltungen zur Verfügung.

DAS HUNZIKER AREAL – QUARTIER STATT SIEDLUNG

Das Hunziker Areal ist mehr als eine reine Wohnsiedlung. Es ist ein neuer Quartierteil und damit vernetzter Teil einer Stadt. Dem Quartier dienende Erdgeschossnutzungen und die Durchlässigkeit des Areals sind beispielhafte Maßnahmen für die anstehende Transformation von Zürich Nord und übernehmen bereits jetzt (Sub-) Zentrumsfunktionen.

Zwei Restaurants, Kultursalon, Tonstudio, Musikräume, Yoga und Tanz, Bäckerei, Geigenbau, Fotografie, Grafikatelier, Verlag, Friseursalon, Nagelstudio, Kindergarten, Kindertagesstätte, Igelzentrum, Umzugsshop, Filmemacher, Arztpraxis, Malerwerkstatt, Nähatelier, Gemüsedepot, Ausstellungsraum, Behindertenwerkstatt, Kinderkleiderbörse, Co-Working-Space: viele unterschiedliche Gewerbenutzungen und Angebote stärken den Quartierscharakter, sorgen nicht zuletzt für eine nachhaltige Nahversorgung und bieten rund 150 Personen Arbeit. Zentrale Anlaufstelle für Anliegen der Mietenden ist die Reception der Genossenschaft. Diese nimmt auch Pakete entgegen, betreibt das genossenschaftseigene Gästehaus und organisiert Führungen, die Verwaltung der Seminarräume und den E-Bike-Verleih der Mobilitätsstation.

Auf dem Hunziker Areal gehört eine hohe Diversität der Bewohnenden hinsichtlich Alter, Herkunft und ökonomischem sowie beruflichem Hintergrund zum gelebten Alltag. Preiswerter Wohnraum, 20% subventionierte Wohnungen sowie die Zusammenarbeit mit verschiedenen Stiftungen, die Betreutes Wohnen anbieten, ermöglichen auch benachteiligten Bevölkerungsgruppen langfristig stabile Mietverhältnisse und Teilhabe am Siedlungsleben. Die 380 Wohneinheiten in 13 Gebäuden bieten Wohnungen für Familien, Einzelpersonen, ältere Menschen und Lebensgemeinschaften: vom Studio bis zur WG-Wohnung, vom Wohnatelier bis zur 12 ½ Zimmer Satelliten-Wohnung. Diese neue Wohnform bietet eine attraktive Möglichkeit für eine Gruppe von Menschen, die zusammenleben, aber gleichzeitig auch eine Rückzugsmöglichkeit möchten.

Das Hunziker Areal ist eine von fünf Schweizer Arealen, die erstmals mit dem Label „2000-Watt-Areal im Betrieb“ zertifiziert sind. Erreicht wird dies mit kompakten, energetisch effizienten, ökologisch gebauten Häusern, dem Einsatz neuer Technologien (wo nötig und sinnvoll) und einem tiefen Energieverbrauch auf der Grundlage nicht fossiler Ressourcen. Durch umfassende Messungen und Vergleiche kann die Bilanz laufend optimiert werden. Auf der sozialen Ebene helfen Konzepte, welche die Mobilität reduzieren und umweltverträglicher gestalten (Stichwort ‚autoarm‘) oder nachhaltige Modelle für Konsum, den Flächenverbrauch und die Alltagsgestaltung. Wesentlich für den Erfolg ist die Kommunikation mit Bewohnenden, die mit ihrem Verhalten die Bilanz deutlich beeinflussen.

DAS ZUSAMMENLEBEN MITGESTALTEN

Partizipation ist wichtiges identifikationsstiftendes Element im Planungsprozess und Zusammenleben, basisdemokratische Strukturen und solidarische Werte die Grundlagen der Genossenschaft. Die Bewohnenden des Hunziker Areals identifizieren sich mit ihrem Quartierteil, fühlen sich zuhause und können sich persönlich entfalten.

Bereits während der Planungsphase des Hunziker Areals fanden Prozesse der Mitwirkung statt. In Echoräumen diskutierten Fachpersonen, Genossenschaftsvertreter/innen und zukünftige Bewohnende Themen wie Nutzungsmix, Ökologie oder Technologie; die Ergebnisse flossen ins Wettbewerbsprogramm ein. Die städtebaulichen Regeln entwickelten die Projektbeteiligten im Dialog mit den Planenden. Der konstruktive Dialog aller Beteiligten prägte das Projekt bis zur Fertigstellung. Die Architektur unterstützt Begegnung, z.B. mit großzügigen Treppenhäusern, die über Fenster Einblick in Wohnungen bieten.

Mit dem Einzug der 1.200 Bewohnenden ins Hunziker Areal von Herbst 2014 bis Sommer 2015 hat sich die Mitwirkung verändert und entwickelt. Seither übernehmen Quartiersgruppen eine elementare Rolle bei der Gestaltung des Quartierslebens. Sie bestehen aus mindestens 5 Mieter*innen und leisten ehrenamtliche Beiträge zum gesellschaftlichen Leben. In den ersten zwei Jahren seit Bezug sind bereits 30 Quartiergruppen entstanden, die ein breites Spektrum an Angeboten abdecken: Baby-Treffen, Bibliothek, Cafetreff, Gemeinschaftsgarten, Jugend, Klettern, Quartierkino, Raum der Stille, Recycling, Tauschhalle, Sauna oder Reparatur-Werkstatt, um nur einige zu nennen. Für ihre kostenlosen Angebote, die allen Mietenden offen stehen, können sie bei der Allmendkommission finanzielle Beiträge beantragen und Allmendräume gratis nutzen.

Neben der Miete zahlen alle erwachsenen Mieter*innen einen monatlichen einkommensabhängigen Genossenschaftsbeitrag zwischen 10 und 30 Franken. Aus diesem Budget stehen jährlich 80.000 Franken für Projekte zur Verfügung. Einige Initiativen vernetzen sich mit dem Quartier oder fördern alternatives Konsumverhalten, wie die Genossenschaft „meh als Gemües“, die eine solidarische Landwirtschaft aufgebaut hat. Eine Leiterin Partizipation als Angestellte der Genossenschaft begleitet die Mitwirkungsprozesse und ist Anlauf stelle für die Koordination von Nachbarschaft und Quartierentwicklung.

Die diesjährige Preisträgerin des Klaus Novy Preises kann wesentliche Anregungen zur Planungs-, Bau- und Partizipationskultur für die anstehenden großen Neubauprojekte in Hamburg geben. Deshalb hat sich FreiHaus entschlossen, den Bewerbungstext der Baugenossenschaft „mehr als wohnen“ zu veröffentlichen.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 22(2017), Hamburg