Kategorien
Architektur/Planungskultur Artikel Wohnprojekte national/international Wohnungspolitik

Die vier Säulen des Wiener Modells

Ökonomie, soziale Nachhaltigkeit, Architektur und Ökologie als Qualitätssäulen beim geförderten Wohnungsbau

*** von Rudolf Scheuvens ***

Eine Gruppe von PolitikerInnen und Verantwortlichen einer Wohnungsbaugesellschaft einer deutschen Stadt auf Rundgang durch die Seestadt Aspern. 80% aller Wohnungen sind dort mit Mitteln des geförderten Wohnbaus realisiert. Doch wer dort eine eher triste Sozialsiedlung und Schlafstadt erwartet hatte, findet einen höchst abwechslungsreichen und lebendigen Stadtteil vor.

In den Erdgeschoßzonen der Janis-Joplin-Promenade befindet sich ein breites Angebot an Geschäftssnutzungen für die Grundversorgung, Gemeinschaftsräume, Fahrradwerkstätten. Die öffentlichen Räume sind, anders als in vielen neuen Stadtgebieten die man kennt, anspruchsvoll gestaltet. Verleihsysteme für E-Bikes, Räder und E-Lastenräder bis hin zum Einkaufstrolley für die Haushalte sind Teil eines innovativen und umfassenden Mobilitätskonzeptes. Sogar ein Schwimmbad auf dem Dach eines Gebäudes findet sich hier.

Die Besucher fragen sich, wie all dies über den geförderten Wohnungsbau bei Mietobergrenzen von rund 7,50 €/qm überhaupt möglich sei? Von daher lohnt es, sich das Modell des Wiener geförderten Wohnungsbaus und die damit verknüpften Qualitätsstandards und Instrumente etwas genauer anzuschauen.

DER HOHE STELLENWERT DER OBJEKTFÖRDERUNG

Weit mehr als die Hälfte aller WienerInnen leben aktuell in einer geförderten Wohnung. 220.000 Gemeindewohnungen, von der Kommune errichtet und verwaltet, sowie 200.000 mit unterschiedlichen Fördermodellen subventionierte und von gemeinnützigen Bauträgern errichtete und verwaltete Neubauten sorgen dafür, dass das „Wiener Modell“ des Sozialen Wohnens weltweit Beachtung findet.

Es sind Projekte wie die Seestadt Aspern oder der neue Stadtteil auf dem ehemaligen Nordbahnhofgelände, die neben den Wohnhöfen des Roten Wiens aus den 1920er und frühen 30er Jahren, zu Vorzeigeprojekten der Wiener Stadtentwicklung und des geförderten Wohnungsbaus wurden.

Während beispielsweise in Deutschland alte Wohnungsbestände und kommunale wie gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften an Höchstbieter verkauft und die Wohnungspolitik zur Subjektförderung übergegangen ist, hat Wiener an der wohnungspolitischen Ausrichtung auf die Objektförderung festgehalten.

Wien verfügt damit über ein besonderes Instrument, das den qualitätsbezogenen Wettbewerb fördert und Beiträge dazu leistet, das Herausforderungen der Stadtentwicklung und des leistbaren Wohnens aktiv und qualitätssetzend beeinflussen zu können.

EIN BESONDERES QUALITÄTSSICHERNDES INSTRUMENTARIUM

Der Stadt steht dazu dazu ein einzigartiges rechtliches, finanzielles und administratives Instrumentarium zu Verfügung. Eine wichtige Schlüsselfunktion nimmt dabei der wohnfonds_wien ein, der in den 1980er Jahren als Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds gegründet wurde. Seine Kernaufgaben fokussieren auf die gezielte Bodenbevorratung und die Bereitstellung von Grundstücken für den geförderten Wohnbau, über die die Bodenpreisentwicklung im geförderten Wohnungsbau preisdämpfend beeinflusst und kurzfristige Marktschwankungen ausgeglichen werden sollen.

HOHE QUALITÄTSSTANDARDS IM GEFÖRDERTEN WOHNBAU

Ein zweiter Aspekt ist entscheidend für den Wohnbau in Wien. Es sind die hohen Qualitätsstandards, die bei allen Projekten nachgewiesen werden müssen, die mit Mitteln der Wohnbauförderung realisiert werden sollen. Zu den Standards zählt die Bereitstellung von Gemeinschaftseinrichtungen (Gemeinschaftsküchen, Fahrradwerkstätten, gelegentlich auch Schwimmbäder etc.) ebenso, wie besondere Beiträge zum klima- und ressourcenschonenen Bauens, die Alltagstauglichkeit wie die anspruchsvolle architektonische Gestaltung. Zur Sicherstellung dieser Qualitäten, wurde 1995 das Instrument der Bauträgerwettbewerbe eingeführt.

DER BAUTRÄGERWETTBEWERB

Bei einem Bauträgerwettbewerb handelt es sich um ein öffentlich ausgelobtes Verfahren. In der Regel stellt der wohnfonds_wien dazu entsprechende Grundstücke bereit, die auf der Basis eines gedeckelten Preises für den Baugrund im geförderten Wohnbau (aktuell liegt dieser bei 235 €/qm Wohnnutzfläche) entwickelt werden. Alternativ werden die Grundstücke von Bauträgern eingebracht, die mit Mitteln der Wohnbauförderung entwickelt werden sollen. Dies betrifft die Entwicklung neuer Quartiere ab einer Größenordnung von derzeit 500 Wohneinheiten, für die zwingend Bauträgerwettbewerbe unter der Regie des wohnfonds_wien durchzuführen sind.

Der Bauträgerwettbewerb dient der Ermittlung von Projektteams aus Bauträgern, ArchitektInnen, Freiraumplaner- Innen und ExpertInnen (Sozialplanung, Gemeinwesenarbeit, Verkehr/Mobilität), die auf den ausgeschriebenen Bauplätzen Realisierungskonzepte zur Wohnbau- und zur Quartiersentwicklung anbieten und diese unter Inanspruchnahme von Wohnbauförderungsmitteln auch umsetzen.

Die Bewertung erfolgt durch eine interdisziplinär besetzte Jury aus BeamtInnen, MitarbeiterInnen des wohnfonds_ wien, ArchitektInnen, PlanerInnen und ExpertInnen für ökologische und soziale Fragen, die die Beiträge anhand von vier Qualitätssäulen beurteilt: Architektur, Ökonomie, Ökologie und soziale Nachhaltigkeit. Die aus einem Bauträgerwettbewerb hervorgegangenen Gewinner sind anschließend verpflichtet, die jurierten Projekte in der eingereichten Form auch zu realisieren.

VIER QUALITÄTSSÄULEN

Bauträgerwettbewerbe unterscheiden sich damit deutlich von Architektur- oder Investorenwettbewerben. Basierend auf den vier Qualitätssäulen geht um eine gleichwertige Betrachtung und Bewertung der Architektur, des ökonomischen Konzeptes, der sozialen wie der ökologischen Nachhaltigkeit: 1) 

  • Im Bereich der ÖKONOMIE werden Aspekte wie Grundstückskosten, Gesamtbaukosten, Betriebskosten, Nutzerkosten (Mieten, Mietnebenkosten), Vertragsbedingungen wie die Kostenrelevanz der Bauausstattung in die Bewertung der Beiträge einbezogen. Hierzu müssen detaillierte Kostenkalkulationen eingebracht werden, die im Rahmen einer Vorprüfung nachvollzogen und über die Jury in die Bewertung einbezogen werden. 
  • Im Bereich der SOZIALEN NACHHALTIGKEIT rücken Aspekte der Alltagstauglichkeit wie die soziale Durchmischung, Mitbestimmungskonzepte, Hausorganisation oder identifikationsstiftende Maßnahmen in den Fokus der Beurteilung. Zudem geht es um die Integration von Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, Bildungsangebote wie Flächen für gewerbliche und/oder Handelsnutzungen. 
  • Im Bereich der ARCHITEKTUR geht es sowohl um städtebauliche Aspekte wie um die konkrete Gebäudestruktur, die Qualität der Wohngrundrisse wie die Gestaltung der Fassaden. 
  • Der Fokus im Bereich der ÖKOLOGIE richtete sich auf die Verbesserung energetischer Standards, den Einsatz erneuerbarer Energien wie die Minimierung von Stoffströmen und Emissionen in der Herstellung der Wohngebäude. Insgesamt soll der Wohnbau, beispielsweise über quartiersbezogene Mobilitäts- und Sharingkonzepte dazu beitragen, umweltbewusste Lebensstile zu fördern.

Darüber hinaus geht es um die Herstellung differenzierter Nutzungsangebote im Grün- und Freiraum wie um dessen Qualität.

4 Säulen-Modell des Wiener Wohnungsbaus

Abhängig vom Projektvolumen hat sich jedes geförderte
Wohnbauvorhaben einer Qualitätsprüfung nach dem
4-Säulen-Modell zu stellen:
SOZIALE NACHHALTIGKEIT. Alltagstauglichkeit, Kostenreduktion
durch Planung, Wohnen im Gemeinschaft,
Wohnen für wechselnden Bedürfnisse
ARCHITEKTUR. Stadtstruktur, Wohnstruktur, Erscheinungsbild,
Innovationspotenzial
ÖKONOMIE. Grundstückskosten, Herstellungskosten,
Kosten- und Vertragsbedingungen
ÖKOLOGIE. Bautechnik, Bauökologie, Freiraum/Grünraum

1) wohnfonds_wien (Hg): Beurteilungsblatt zum 4-Säulen-Modell, Oktober 2009

REGULIERTE VERFAHREN

Vergleichbar zu klassischen Wettbewerben, bewegen sich auch die Bauträgerwettbewerbe in einem regulierten Verfahren. Basierend auf einer öffentlichen Ausschreibung und einer vom wohnfonds_wien entwickelten Auslobung, werden Konzepte entwickelt, die von einem Ingenieurbüro vorgeprüft, im Rahmen von Dienststellengesprächen bezogen auf die Umsetzbarkeit und Förderbarkeit erörtert und von der Jury abschliessend beurteilt werden.

Aufgrund der Komplexität der Beurteilungskriterien bedingt die Teilnahme an einem Bauträgerwettbewerb eine enorme fachliche Kompetenz und Erfahrung der beteiligten Teampartner. Schließlich geht es hier nicht „nur“ um städtebauliche oder architektonische Fragen sondern gleichermaßen auch um die Ermittlung der Investitions- und Betriebskosten wie der Nutzerkonditionen und um die Entwicklung plau sibler und umsetzbarer Mitbestimmungskonzepte. Dies bereits auf der Ebene des Wettbewerbs!

Indem in einem Bauträgerwettbewerb alle vier Qualitätssäulen gleichberechtigt in die Beurteilung einbezogen werden, sind wirklich Ausreißer, beispielsweise bezogen auf experimentelle Architekturansätze, relativ selten. Hinzu kommt, dass der Bauträgerwettbewerb, auch bei größeren Quartiersentwicklungen, lange Zeit immer nur bauplatzfixiert angegangen wurde. Übergreifende und quartiersbezogene Ansätze, beispielsweise im Bereich der Entwicklung der öffentlichen Räume, der Mobilität, der Energieversorgung oder bezogen auf die Entwicklung der Erdgeschosse für gewerbliche Nutzungen, kamen dabei viel zu kurz. Dies hat sich in den vergangenen Jahren durch die Einführung zweistufiger und in der zweiten Stufe dialogorientierter Bauträgerwettbewerbe verändert. Im Rahmen einer offenen ersten Stufe werden von der Jury jene Teams ausgewählt, die sich über ihre konzeptiven Ansätze ausgezeichnet haben und denen zur zweiten Stufe konkrete Bauplätze in dem Quartier zugewiesen werden. In der zweiten Stufe werden die Konzepte von den ausgewählten Teams weiter ausgearbeitet und qualifiziert. Eine Folge von Workshops sichert dabei den kontinuierlichen und bauplatzübergreifenden Austausch der Teams untereinander – was die Qualität integrierter Ansätze maßgeblich erhöht hat. Zum Ende der zweiten Stufe bewertet die Jury die Förderfähigkeit der einzelnen Projekte und gibt gegebenenfalls Auflagen mit auf den Weg, die vor einer Förderzusage eingelöst werden müssen.

WIEN UND DIE INTERNATIONALE BAUAUSSTELLUNG „NEUES SOZIALES WOHNEN“

Seit ihrer Einführung hat sich der Bauträgerwettbewerb als qualitätssicherndes Instrument im geförderten Wohnbau bewiesen. Dennoch macht sich auch Kritik an den hohen Qualitätsstandards und am Bauträgerwettbewerb selbst fest. Immer wieder wird herausgestellt, dass die hohen Qualitätsstandards wie überzogene Normen mit dazu beigetragen, dass der geförderte Wohnbau im wesentlichen nur noch die einkommensstärkere Mittelschicht anspricht. So kann im frei finanzierten Wohnbau, begründet in den derzeit niedrigen Kapital zinsen und den fehlenden Qualitätsstandards, kosten günstiger gebaut werden – ohne dass sich dies allerdings auch in günstigeren Mietkonditionen ausdrücken würde.

Insgesamt gerät der soziale Wohnbau in Wien angesichts stark steigender Grundstückspreise, eines durchschnittlich stagnierenden bzw. sinkenden Realeinkommens und eines stagnierenden Wirtschaftswachstums zunehmend unter Druck. Die Herausforderungen sind daher groß, das etablierte Instrumentarium im geförderten Wohnungsbau weiter zuentwickeln und neu zu justieren.

Mit der Erklärung zur Durchführung einer Internationalen Bauausstellung zum Thema „Neues Soziales Wohnen“, will die Stadt Wien nun neue Akzente im Bereich des geförderten Wohnungsbaus setzen. Im Zentrum der IBA Wien 2022 stehen die drei großen Themenfelder: der Neubau, die Bestandsentwicklung und das Zusammenleben in einer zunehmend vielfältigeren Gesellschaft.

Wie lassen sich die hohen Anforderungen an die Leistbarkeit bei dem hohen Druck auf die Wohn- und Immobilienmärkte sichern? Welche neuen Partner, Träger- und Finanzierungsmodelle können entwickelt werden, um die Herausforderungen des sozialen Wohnens auch in Zukunft bewältigen und gestalten zu können? Und was bedeutet dies für die Weiterentwicklung der Qualitätsstandards wie für die Weiterentwicklung des bewährten Instruments der Bauträgerwettbewerbe?2) Wir dürfen gespannt sein, was sich hier weiter entwickeln wird. 

2) IBA_Wien 2022 – Neues soziales Wohnen (Hg): Programmatik zur Internationalen Bauausstellung Wien 2022 – Rahmen, Struktur, Memorandum; Wien 2017, S. 21

Rudolf Scheuvens ist Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung und war sechs Jahre stellvertretender Vorsitzender des Grundstücksbeirates der Stadt Wien und ständiges Mitglieder der Bauträgerjury im geförderten Wohnbau in Wien.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 22(2017), Hamburg