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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Wohnbedürfnisse muslimischer Haushalte

Kulturspezifische Wohnansprüche von Muslimen und ihrer Realisierungsmöglichkeiten

*** von Mascha Stubenvoll ***

Das Hamburger Weltquartier wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) als Modellprojekt für interkulturelles Wohnen umgesetzt. Zwei Studenten der HafenCity Universität Hamburg (HCU) haben das Quartier hinsichtlich der kulturspezifischen Wohnbedürfnisse von Muslimen untersucht.

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung entstand in Hamburg Wilhelmsburg im südlichen Reiherstiegviertel bis 2015 das Weltquartier. Dafür wurden zwischen 2009 und 2015 insgesamt 770 Wohneinheiten in einer ehemaligen Arbeitersiedlung modernisiert und umgebaut und zum Teil durch Neubauten ersetzt. In dem Quartier leben 1.700 Menschen aus 30 unterschiedlichen Nationen, die nach Fertigstellung des Quartiers die Möglichkeit erhielten zurückzuziehen.

Um räumlichen Interessen einer internationalen Gesellschaft gerecht zu werden, hat die IBA mit dem Leitthema „Kosmopolis“ ein Zeichen für die Zukunftsstadt gesetzt. Das Weltquartier sollte unter Anwendung des Leitthemas ein Modellprojekt für interkulturelles Wohnen werden: es wurden neue Beteiligungsstrategien angewendet, in einer interkulturellen Planungswerkstatt sollten die in üblichen Planungsprozessen oft nicht zu erreichenden Migranten eingebunden werden. Zusätzlich wurden sechs Heimatforscher eingesetzt, die die Bewohner aufsuchten und sie in ihrer eigenen Muttersprache unter anderem nach dem Begriff von Heimat befragten. Ziel war es mit der Beteiligung Wohnbedürfnisse zu ermitteln, die in der späteren Planungsphase, berücksichtigt werden konnten.

Zwei muslimische Studenten aus der Türkei und Afghanistan studieren an der Hamburger HafenCity Universität Stadtplanung und leben selbst im Weltquartier. Im Rahmen ihrer Bachelor Thesis „Wohnbedürfnisse muslimischer Haushalte: (K)ein Hindernis für die Planung?“, haben sie sich das Quartier als Untersuchungsraum ausgesucht, um – mit Hilfe von Interviews – zu er arbeiten, welche kulturspezifischen Wohnansprüche Muslime haben, ob sie im Weltquartier befriedigt werden, und ob es Möglichkeiten der Berücksichtigung von Wohnwünschen bei der Realisierung von neuen Wohnprojekten gibt.

Vor dem Hintergrund hat STATTBAU Hamburg die beiden eingeladen und sie im Rahmen eines Interviews zu den Ergebnissen ihrer Untersuchung befragt.

FreiHaus: Herr Celik und Herr Qhdeer, welche Wohnbedürfnisse bestehen bei Menschen muslimischen Glaubens hinsichtlich der Wohnung?

Veysel Celik und Kawa Qhdeer: Wir haben festgestellt, dass die realisierten Grundrisse vielfach nicht den Bedürfnissen der Bewohner hinsichtlich ihrer kulturellen und religiösen Werte entsprachen. Die Bewohner habe in vier Bereichen Änderungen/Anpassungen vorgenommen:

1. PRIVATSPHÄRE. Die Privatsphäre spielt eine unentbehrliche Rolle im alltäglichen Leben muslimischer Haushalte. Daher haben viele Bewohner selbst Modifikationen vorgenommen, wie einen Sichtschutz in Form einer Fensterfolie oder erhöhten Hecke oder ein Tuch auf dem Balkon.

2. WOHNRAUMKONSTELLATION und

3. GRUNDRISSGESTALTUNG. Durch die gelebte Geschlechtertrennung ergeben sich Schwierigkeiten in der im Weltquartier vorgefundenen Wohnraumkonstellation und Grundrissgestaltung: Durchgangszimmer lassen sich im Alltag nicht gut nutzen, denn Frauen und Männer halten sich in getrennten Räumen auf. Gemischt geschlechtliche Treffen erfolgen nur im engen Kreis der Familie.

Für muslimische Familien ist es wichtiger mehrere und kleinere Räume zu haben, als – wie in der Mehrheitsgesellschaft üblich – wenige größere Räume zu favorisieren. Das liegt an der praktizierten Geschlechtertrennung, die dann auch zur Folge hat, dass die Kinder unterschiedlichen Geschlechts schon früh nicht mehr in einem Zimmer wohnen. Auch sind Zimmer, die durch andere erschlossen werden, in der muslimischen Kultur gar nicht üblich.

Bei unseren Besuchen wurden wir auf interessante Modifikationen aufmerksam, wir möchten zwei Beispiele nennen. 

  • Beispiel Trampelpfad. Wenn die Familie Besuch bekommt, sitzen die Frauen im Wohnzimmer, von dem eine Tür ins Schlafzimmer und die andere auf den Balkon/Wintergarten abgeht. Da die Männer nicht ohne durch das Wohnzimmer gehen zu müssen, in einen anderen Raum der Wohnung kommen, klettern sie mit Hilfe einer kleinen Trittleiter durch das Küchenfenster auf den Balkon/Wintergarten. Sie haben sich selber einen Trampelpfad gemacht. 
Gegebenheiten und der Wunsch: die notwendige „Trampelpfadroute“ in einer Wohnung und der genannte Optimierungsvorschlag.
  • Beispiel Zimmer im Zimmer. Der Sohn einer 5-köpfigen Familie hat geheiratet und lebt nun mit seiner Frau mit in der elterlichen Wohnung. Da das Paar ein eigenes Zimmer benötigt, das es in der Wohnung nicht gab, hat man einen Teil des Wohnzimmers mit Leichtbauwänden abgetrennt, so dass ein weiteres Zimmer entstand. Der Zugang ist allerdings nur durch die Küche möglich, was als nicht optimal bewertet wird.

4. SANITÄRAUSSTATTUNG. Die in den Wohnungen vorgefundenen sanitären Anlagen eignen sich nicht dazu, die entsprechend der islamischen Reinheitsgebote üblichen Waschungen nach dem Toilettengang vorzunehmen. Es wurden daher Modifikationen in Form selbstinstallierte Hygenieduschen, Dusch WCs oder zusätzlich installierter Schläuche vorgenommen.

FreiHaus: Werden im Weltquartier die Bedürfnisse muslimischer Haushalte befriedigt und ist das Quartier Ihrer Meinung nach ein gutes Beispiel für interkulturelles Wohnen?

Veysel Celik und Kawa Qhdeer: Erstaunlicherweise wurden weder die Aspekte „Privatsphäre“ und „Geschlechtertrennung“, noch die „sanitären Ausstattungen“ bei der Planung des Quartiers in Betracht gezogen, obwohl muslimische Haushalte in großer Anzahl im Weltquartier vertreten sind.

Das hervorstechendste Merkmal des Quartiers ist der günstige Preis für gehobene Wohnqualitäten und nicht die Interkulturalität. Folglich handelt es sich eher um ein Modellprojekt für günstiges Wohnen mit gehobenen Wohnqualitäten und weniger um ein Modellprojekt für interkulturelles Wohnen.

FreiHaus: Gibt es Ihrer Meinung nach Möglichkeiten der Berücksichtigung von kulturspezifischen Wohnwünschen bei der Realisierung von neuen Wohnprojekten?

Veysel Celik und Kawa Qhdeer: Ja, die gibt es. Wohnprojekte mit kulturspezifischen Grundrissen könnten umgesetzt werden. Man sollte allerdings im Vorfeld analysieren, wer dort hinziehen wird und sich die bestehenden Kulturen vor Ort angucken. Mögliche Schnittstellen der unterschiedlichen kulturell geprägten Bedürfnisse sind zu formulieren und nach Umsetzbarkeit zu überprüfen: Wie sind die rechtlichen und ökonomischen Voraussetzungen für die Umsetzung der Wohngrundrisse? Es gibt beispielsweise immer Barrieren bezüglich des Preises.

Individuelle Grundrisse sind schwer umzusetzen, das hat auch ein Gespräch mit dem Eigentümer des Weltquartiers SAGA/GWG ergeben. Die SAGA/GWG möchte für den breiten Markt bauen und hatte an Konzepten wie unserem kein besonders Interesse. Bei Privatinvestoren könnte es allerdings ganz anders sein. Auch Genossenschaften haben ein größeres Interesse für Ihre Mitglieder Wohnraum anzubieten, der kulturell geprägte Bedürfnisse berücksichtigt.

Möglich ist es mit Konzepten zu arbeiten, die flexible Grundrisse vorsehen, so dass man innerhalb der Wohnung entsprechend der Bedürfnisse nicht tragende Wände verschieben kann. Architektonische Ideen zur Umsetzung gibt es, die Wirtschaftlichkeit solcher Projekte muss geprüft werden.

FreiHaus: Vielen Dank für das Gespräch! 

Mascha Stubenvoll ist Diplom-Ingenieurin Stadtplanung und Mitarbeiterin bei STATTBAU HAMBURG.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 22(2017), Hamburg