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Gemeinsam Wohnen im Quartier: Demografische Perspektiven und lokale Handlungsmöglichkeiten

Altern, Wohnen,
Sozialraumentwicklung und die Rolle des gesellschaftlichen
Zusammenhalts

*** von Christian Heerdt ***

Kaum eine Diskussion zum Altern in Deutschland und der demo-grafischen Entwicklung kommt ohne die apokalyptischen Narrative von Altersarmut bis Pflegenotstand aus. Dabei haben wir mit Blick auf das Altern durch strategische Wohnpolitik, Sozialraumentwicklung und urbane Infrastrukturentwicklung nicht nur Erkenntnisse, sondern auch praktisches Handwerkszeug für die Weichenstellung zukunftsfesten und generationengerechten Alterns selbst in der Hand. Die größte Herausforderung ist deshalb nicht die Alterung unserer Gesellschaft,
sondern die Transformation bestehender Strukturen und Handlungsräume.


So vielfältig und heterogen das Altern auch ist, Wohnen, Wohnraum und das Wohnumfeld sind über den gesamten Lebensverlauf der zentrale Ankerpunkt gelingenden Alterns. Mit dem Begriff „Ageing in Place“ hat die Vorstellung eines selbstbestimmten und selbständigen Lebens in der eigenen Häuslichkeit und im vertrauten Umfeld vor Jahrzehnten einen Begriff bekommen, der sich auch in der Sozialge-setzgebung bspw. dem SGB XI unter dem Mandat „ambulant vor stationär“ wiederfindet und unverändert ein Leitmotiv der Wohn- und Sozialpolitik von Bund, Land und Kommune darstellt. Quantitativ betrachtet, scheint sich das Leitmotiv in der praktischen Lebenswelt wiederzufinden: Über 95 Prozent der Menschen über 65 Jahre leben in Deutschland in ihrem eigenen und vertrauten Zuhause, der Großteil ist nach Daten des deutschen Alterssurvey zufrieden mit der Wohnsituation und kann sich einen Umzug nur unter spezifischen Umständen – bspw. schwere Pflegebedürftigkeit – vorstellen.

Licht und Schatten: Ein Blick und die demografische Zukunft
Ohne inhaltliche Betrachtung dieser Zahlen fehlt allerdings eine entschei-dende Dimension: die damit verbundene Lebensqualität. Allein der Faktor bis an das Lebensende bspw. über 50 Jahre in der eigenen Wohnung gelebt zu haben, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die Überschneidung zwischen hoher Lebensqualität aufgrund von Selbstbestimmtheit, Mitwirkungsmöglichkeiten, Autonomie und Interaktion und der eigenen Häuslichkeit hoch ist. Auch hier ist die individuelle Lebenswelt unterschiedlich. Defizitär betrachtet, wird das Einsamkeitsrisiko im Alter weiter steigen, die Anzahl demenzieller Erkrankungen und die Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung weiter zunehmen – auch wenn unsere gesundheitliche Versorgung und der kollektive Wohlstand sich weiter verbessern. Und bereits heute fehlen im Bestand allein etwa zwei Millionen barrierereduzierte Wohnungen und bezahlbarer Wohnraum. Aber auch unter schwierigen Rahmenbedingungen gelingt Altern – und das deutlich besser
und häufiger als wir in der Regel vermuten. Aber woran liegt das?

Sorgende Gemeinschaften und vernetzte Wohnquartiere
Wie wir alt werden, ist nicht nur von Einzelfaktoren abhängig, sondern von unserer Umwelt. Wir werden nicht alleine älter, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Eben hier müssen Wohn- und Stadtentwicklungspolitik
ansetzten: es geht um die Entwicklung integrativen Wohnraums und Sozialraumbildung. Aus den Wirkungsanalysen zu sozialraumorientierter
Stadtentwicklung, altersgerechter Quartiersgestaltung und den kollektiven Effekten neuer Wohnformen sehen wir in der Regel eine dreifache
„Verzinsung“: sozial-integrative Viertel mit ausgeprägtem
nachbarschaftlichen Gefüge, Mitwirkungsmöglichkeiten,
niedrigschwelligen Hilfs- und Entlastungsangeboten (uvm.) werten Wohnviertel nicht nur auf, sie kompensieren herausfordernde
Lebenslagen wie Barrieren im eigenen Wohnraum bzw. substituieren fehlende Dienstleistungen. Außerdem erhöhen sie die Zugangs-wahrscheinlichkeit zu bestehenden Angeboten bspw. in der medizinischen-
therapeutischen Versorgung und haben daher auch präventive und gesundheitsrelevante Effekte. Vor allem aber schaffen kleinräumige vernetzte Nachbarschaften und Quartiere Mitwirkungs-
und Selbstbestimmungsmöglichkeiten im direkten Miteinander – unabhängig von Familienstand oder Vermögen.

Sozialraumbildung und neue Wohnformen
Die sozialraumbezogene Sichtweise auf das Altern, hat schon vor mehreren Jahrzehnten Einzug in die Forschung und lokale Praxis bspw. von Wohnungsbaugenossenschaften, gemeinnützigen Wohnträgern, Stadtentwicklung und den Trägern der Altenhilfe Einzug gehalten. Für die so genannten „neuen Wohnformen“ zeichnet sich ein ähnliches Bild: Wenn wir von neuen Wohnformen sprechen, sind in der Regel gemeinschaftliche Wohnformen gemeint. Diese bilden ein Spektrum
ab, das von klassischen Wohngemeinschaften bis hin zu integrierten und generationenübergreifenden Wohnanlagen, wie sie das erste Foto zeigt, mit vielfältigen Gemeinschaftsangeboten und -flächen reicht. Sie sind in Form und Vielfalt sehr unterschiedlich und adaptionsfähig an den jeweiligen Raum. Zentrales Element innovativer Wohnformen ist, dass sie besonderen Wert auf die Wahrung von Autonomie und Selbstbestimmung bis an das Lebensende im Kontext gemeinschaftlichen Zusammenlebens setzten. Das Leben in Gemeinschaft und die damit verbundene Förderung von sozialer Teilhabe und Gegenseitigkeitshilfe ist als Markenkern nicht nach innen auf die Bewohnerinnen und Bewohner beschränkt: Innovative Wohnformen sind auch Motor für das gemeinschaftliche Zusammenleben im Quartier und zeichnen sich durch eine hohe Durchlässigkeit aus, die es bspw. ermöglicht Dienstleistungen des Wohnangebotes zu nutzen, an Gemeinschaftsangeboten teilzunehmen und quartiersweite Angebote (Bewegungs- und Gesundheitsangebote, ehrenamtliche Begleitdienste, uvm.) aufzubauen. Dies wird in Wohn- und Hausgemeinschaftsformaten im urbanen Raum genauso umgesetzt wie bspw. durch die Revitalisierung ehemaliger Hofanlagen mit gemeinschaftlicher Mischwohnbebauung (s. Foto).

Wohnpräferenzen und Pflegebedürftigkeit
Aufgrund der stetig steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen und der Stagnation klassischer Versorgungsangebote sind innovative Wohn- und Quartierskonzepte sozialpolitisch attraktiver geworden und bei knappen Ressourcen die potentiale alternativer Wohnformate und vernetzter Sorgegemeinschaften in Quartieren zu nutzen. Aktuelle Studien zeigen, dass „neue Wohnformen“ durch die Integration von Versorgungs-leistungen und 24h-Angeboten nicht nur auf eine hohe Nachfrage treffen, sondern qualitativ und wirtschaftlich Alternativen zu ambulanten oder stationären Wohn-Pflegeangeboten darstellen können. Prognosen zeigen zudem, dass nicht nur der quantitative Bedarf an bezahlbarem Wohnraum ansteigt, sondern sich auch die Präferenzen und Umzugsbereitschaft verändern. Gemeinschaftliche Wohnformen, die ein Leben in Privatheit mit Gemeinschaftsangeboten verbindet, werden insbesondere bei den Geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer-Generation immer attraktiver und zugleich steigt in dieser Gruppe die Engagement-bereitschaft an – wenn es den persönlichen Interessen entspricht. Eine Motivation liegt darin bereits vor Krisenfällen, wie der eigenen Pflegebe-dürftigkeit oder der des Partners bzw. Partnerin, ein Wohnformat zu finden, das Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die eigene Autonomie ebenso ermöglicht wie eine hohe Versorgungssicherheit. Ein weiterer Faktor ist der Wunsch nach Mitbestimmung und Mitentscheidung. Ein Motiv, das besonders mit integrierten Wohnformaten resoniert.

Normative Kraft des Faktischen: Handlungsimpulse und soziale Ewigkeitskosten
Auch wenn wir viel über die positiven Entwicklungen innovativer und im Quartier vernetzter Wohnangebote wissen – insbesondere mit Blick auf das Altern – sind die entsprechenden Strukturen und Angebote unterentwickelt und Wohnviertel weit von gleichwertigen Lebensver-hältnissen entfernt. Die Potentiale und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft lassen sich nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe lösen. Mit barrierefreien Wohnangeboten und altersgerechten Städten allein ist es nicht getan. Sie müssen demografiefest sein und dafür braucht es wohnpolitische Ansätze, die mit einer sozialräumlichen Entwicklung verzahnt und primär in der kommunalen Steuerung verankert sind. Vor allem bei dem letzten Punkt ist das Steuerungsdelta groß, die Inter-ventionsmöglichkeiten hingegen sind umfangreich, der „Social Return on Investment“ potenziell hoch. Zur Umsetzung braucht es jetzt Investitionen in:

• präventive Wohnangebote, die eine selbstbestimmte Lebensweise ermöglichen und eine generationen- und klimagerechte Wohnungs-baupolitik
• eine sozialräumliche Infrastrukturplanung und Investitionskosten-steuerung zur Förderung gemeinnützigen Wohnraums und Quartiersentwicklung
• die Transformation von verrichtungs- und dienstleistungsbezogenen Wohnsettings zu teilhabeorientiertem Wohnen in Gemeinschaft
• die Demokratisierung des Wohnens und Ausbau differenzierter Wohnmodelle (Innovationswohnen)

Altersgerechter und demografiefester Wohnraum entsteht nicht gleichwertig von allein. Die „sozialen Ewigkeitskosten“ sind Teil einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie gegenwärtiger und kommender gesellschaftlicher Anforderungen der sich wandelnden sozialen Infrastruktur in einer Gesellschaft des langen Lebens.