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Artikel Netzwerk Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Herr Sator und die geteilte Verantwortung

Von der sozialen Nachhaltigkeit kleiner sorgender Gemeinschaften

*** von Ulrike Petersen ***

Im September 2022 führte ich mit Herrn Sartor, der elf Jahre lang Angehörigen-Sprecher einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz in Hamburg war, ein Interview: Warum hat er sich für die WG engagiert? Was bedeutet geteilte Verantwortung? Und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sorgende Gemeinschaften gelingen? Anlass für dieses Gespräch war die Frage, wie sich unsere Gesellschaft angesichts des demographischen Wandels sozial nachhaltig gestalten lässt. Welche Antworten können innovative Wohn-Pflege-Projekte als Orte sozialer Aufmerksamkeit mit dem viel zitierten Bürger-Profi-Mix dabei geben?

MAN GIBT HIER KEINEN AB – DAS WAR GENAU DAS RICHTIGE

Im Rahmen seiner ehrenamtlichen Tätigkeit kümmerte sich Herr Sartor lange um eine verwitwete Frau aus seiner Kirchengemeinde. Als er bemerkte, dass es Ilse zusehends schlechter ging und sie an Demenz erkrankte, übernahm er auch ihre rechtliche Betreuung. „Damals war das Thema Demenz für mich noch ein unbeschriebenes Blatt. Ich hatte das zwar schon kennengelernt (…) denn meine Eltern hatten unsere Oma zu sich genommen, Oma war tüddelig aber heute weiß ich, das war Demenz und meine Eltern haben sich damals sehr stark aufgeopfert“.

Durch eine Stiftung wurde er auf eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft in Hamburg St. Georg aufmerksam, informierte sich über das Konzept und entschied, dass dies ein guter Ort für seine Betreute war. „2008 hat es dann geklappt mit dem Umzug und Ilse hat sich dort auch super wohlgefühlt“. Er erzählt, wie er Schritt für Schritt Teil der Angehörigengruppe wurde und wie wichtig der Austausch und die gemeinsamen Aktivitäten für den Zusammenhalt waren: „Da wurden in den monatlichen Besprechungen alle Probleme sehr offen und liebevoll angesprochen. Wir saßen zu Dritt am Tisch, Vermieter, Pflegedienst und die Angehörigen. (…) Das war einfach sehr schön und hat auf die gesamte Stimmung in der WG ausgestrahlt. (…) Es gab immer Dinge, die nicht so gut gelaufen sind oder wo man Verbesserungen machen konnte. Aber es ist eben gemein-schaftlich immer gelöst worden.“

Personalknappheit, Beschwerden aus der Nachbarschaft, Krankenhauseinweisungen, Todesfälle, Kontroversen in der Gruppe, wirtschaftlicher Druck… im Laufe der Jahre, berichtet Herr Sartor, gab es auch gravierende Probleme, Krisen, die die WG „an die Grenzen der Tragfähigkeit“ brachten. „Das waren auch schon schwere Zeiten und so war man dann natürlich mit der WG ziemlich eng verbunden“.

MAN MACHT SICH SCHON MAL GEDANKEN: KANNST DU DIESE VERANTWORTUNG EIGENTLICH TRAGEN?

Als 2011 die langjährige Angehörigen-Sprecherin, die sich seit der Gründung mit Herz und Seele um die WG gekümmert hatte, ausschied, “da war dann die Frage groß. Wer macht es? Wer kann es übernehmen?“ Herr Sartor wurde von der Gruppe gebeten diese Rolle zu übernehmen. „Ich habe ja eine Schwäche. Ich kann schlecht Nein sagen!“, bemerkte er schmunzelnd und wurde Angehörigensprecher für die nächsten elf Jahre bis zum Tod von Ilse – allerdings nur unter der Voraussetzung, betont er, dass alle mitmachen und sich auf Augenhöhe begegnen.

Herr Sartor kümmerte sich auch darum neue Bewohner auszusuchen, wenn WG-Zimmer frei wurden. Seine Erfahrungen aus all den Gesprächen der letzten Jahre auf einen Punkt gebracht: „Es kristallisierte sich sehr schnell heraus, dass die Bewohner nie das Problem waren. Das Problem waren die Angehörigen. (…) Also ich habe einmal erlebt, dass jemand seinen Vater abschieben wollte, das konnte man einfach förmlich merken. Das war natürlich nichts, aber es gab auch ganz viele engagierte Menschen (…), die einfach fragten: Was muss ich tun, damit es meinem Angehörigen gut geht? Was können wir tun, um uns einzubringen, damit es auch so bleibt?“

Angesichts der vielfältigen Aufgaben die in der WG anfallen, lernte er im Laufe der Zeit Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, „denn irgendetwas passierte ja immer! Wenn die Waschmaschine kaputt ging, dann war das schlimm, aber dann beschließt man okay, wir nehmen 1.000 Euro in die Hand und kaufen eine Neue. Schlimmer sind die anderen Probleme, die aufgetreten sind. (…) Wie ist das Verhältnis untereinander? Gab es irgendwelche Differenzen? Was ist nicht ausgetragen? Zum Beispiel gab es immer die Schwierigkeiten mit dem Pflegedienst. Man hatte nicht genug Geld. Die Pflegekräfte waren zu wenig oder zu teuer oder es wurde jemand krank, die hatte keinen Ersatz.“ Zu einer der wichtigen Aufgabe der Angehörigen gehört für ihn deshalb das Pflegeteam, das tagtäglich rund um die Uhr die Arbeit macht „so gut wie möglich zu unterstützen“ und, wenn nötig auch zu intervenieren: „Wir müssen aufpassen (…) und ein waches Auge darauf haben, dass die Pflegekräfte nicht unter Stress oder Druck geraten, denn das ist natürlich genau das, was einer Demenz-WG widerspricht!“

„In der Länge liegt die Last“ meint Herr Sartor, als ich ihn fragte, was rückblickend betrachtet belastend gewesen sei. Er findet das Prinzip der WG wunderbar aber es „erfordert permanentes Engagement“: „Man kann es nicht einfach ablegen, dass man sagt, so okay, das läuft jetzt und in zwei Wochen ist Angehörigen Sitzung, dann kümmern wir uns um die Probleme, sondern das betraf einen ständig. Es bewegte einen und es gab auch immer irgendwelche Anfragen. Irgendeiner vom Pflegepersonal rief an oder es geschah irgendwas.“

Und dennoch, so betont er, „gut war einfach die Atmosphäre, in der die Menschen wohnen konnten. Demenz war für mich immer das Bild einer schrecklichen Krankheit, worüber man gar nicht nachdenken, was man gar nicht anschauen möchte. Aber das war in der WG nicht so. Es war eine Atmosphäre, die angenehm und freundlich war. Ja, die haben dreimal gefragt nach dem Wetter und es gab auch vielleicht mal ein bisschen Ärger, wenn jemand sein Gebiss auf den Tisch schmiss (…) oder wenn der Stuhl mal nass war… solche Dinge passierten natürlich, aber insgesamt waren die Bewohnerinnen und Bewohner immer ausgeglichen.“ Angesichts des demographischen Wandels und der Zunahme von Demenz lässt sich das „Schreckgespenst Demenz“, so seine WG-Erfahrung „viel besser verarbeiten, indem man sich damit auseinandersetzte, sich umeinander kümmerte.“ Die positiven Effekte beschreibt er mit Worten wie Toleranz, Gefühl der Geborgenheit, Teil einer Gemeinschaft sein, den Blick für die Nöte des Nächsten lernen, Verantwortung nicht als Belastung empfinden. „Das ist das, was eine WG auszeichnet und das ist wertvoll für die Gesellschaft, denn das tragen die Leute hoffentlich weiter!“

Dass Verantwortungsübernahme, die auf kollektivem Engagement und auf Augenhöhe mit Vermieter:innen und Dienstleister:innen basiert, ein Lernprozess mit Herausforderungen und Stolperfallen ist, zeigen die Erfahrungen und Erkenntnisse von Herrn Sartor. Dass kleine sorgende Gemeinschaften darüber hinaus nicht voraussetzungslos gelingen, macht er an vielen Stellen im Gespräch deutlich: Grundwerte wie Fürsorglichkeit, Solidarität und Verlässlichkeit, sachkundige Moderation und externe Unterstützung bei Problemen bis hin zu lebendigen Quartieren mit Geschäften, mit einem Wochenmarkt und Parks… Innen wie Außen braucht es förderliche Rahmenbedingungen. „Ich meine, es entstehen ja immer mehr WGs und ich denke die brauchen Unterstützung aus der Politik und (…) auf der Stadt-Ebene. Die müssen die Impulsgeber sein, müssen dafür sorgen, dass es solche Möglichkeiten überhaupt gibt. Wir sind aus der Praxis. Wir leben sie, aber die ‚da oben‘ müssen die gesetzlichen Gegebenheiten dafür schaffen, dass man überhaupt eine WG eröffnen kann.“

ZUM SCHLUSS

Ich danke Herrn Sartor für dieses vertrauensvolle Gespräch! Es macht einmal mehr deutlich, um es mit meinen Worten auszudrücken, dass wir mit Blick auf die Generation der Babyboomer ohne Frage vielfältige Projekte auf den Weg bringen müssen, die Wohnen mit Pflege kombinieren. Dass wir Orte und Begleitstrukturen für Selbstbestimmung und Partizipation, für nachbarschaftliches und familiäres Engagement brauchen … in den Neubaugebieten Hamburgs bestehen jetzt gute Chancen, die Weichen für nachhaltiges Handeln zu stellen!

Anders als gewohnt – Wohn-Pflege-Gemeinschaften

Seit einigen Jahrzehnten entstehen im Bundesgebiet und so auch in Hamburg immer mehr Wohn-Pflege-Gemeinschaften. Ein Großteil von ihnen richtet sich an eine der besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe unserer Gesellschaft, an Menschen mit Demenz. 1,6 Millionen Menschen mit Demenz leben in Deutschland, Tendenz steigend. In Hamburg gibt es derzeit 47 ambulant betreute Wohngemeinschaften. Als überschaubare Wohnformen mit maximal zehn Personen basieren sie – im Gegensatz zu stationären Einrichtungen – auf dem Prinzip der „geteilten Verantwortung“ zwischen den An- und Zugehörigen, dem Vermieter und einem Pflegedienst. Die Angehörigen üben das Hausrecht aus und beauftragen gemeinsam einen Pflegedienst ihrer Wahl. Miet- und Pflegeverträge sind voneinander getrennt.

Mehr dazu: Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften:

www.koordination-wohn-pflege-gemeinschaften.hamburg 

Ulrike Petersen ist Leiterin der Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften bei STATTBAU HAMBURG.

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Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg