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Komm in die Gänge

Komm in die Genossenschaft

*** von Michael Ziehl ***

Komm in die Gänge – unter diesem Slogan wurde 2009 das Gängeviertel in Hamburg besetzt. Dadurch konnte der Abriss des historischen Viertels verhindert und die denkmalgerechte Sanierung durchgesetzt werden. Offen ist allerdings weiterhin, wer die sanierten Häuser später einmal verwaltet. Die Aktiven im Gängeviertel haben eine Genossenschaft gegründet und bauen auf die Solidarität von Kulturgenossen, um das Viertel weiterhin selbst verwalten zu können.

Die Gängeviertel waren über Jahrhunderte die Quartiere der einfachen Leute in Hamburg. Ihre schmalen Gänge prägten große Teile des Stadtbildes. Bis ins 19. Jahrhundert dehnten sich die eng bebauten Quartiere im Stadtkern aus. Doch davon ist nicht mehr viel übrig. Durch verschiedene Phasen des Stadtumbaus während der Gründer-, Nazi-, und Nachkriegszeit sind die Gängeviertel fast komplett zerstört worden.

Das letzte zusammenhängende Ensemble bilden heute zwölf Gebäude zwischen den Straßen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße, gemeinhin als „das Gängeviertel“ bezeichnet. Auch dieses letzte authentische Zeugnis sollte trotz Denkmalschutz der Abrissbirne zum Opfer fallen. Fast zehn Jahre lang ließ es die Stadt Hamburg leer stehen und verfallen. Schließlich wurde es an den meistbietenden Investor „Hanzevast“ verkauft und der Abriss genehmigt. Der Neubau von Büros, Gewerberäumen und Wohnungen im gehobenen Segment war vorgesehen – doch es kam anders: Unter dem Slogan „Komm in die Gänge“ haben im August 2009 rund 200 Menschen das letzte Stück Gängeviertel besetzt. Seitdem herrscht in den zwölf Häusern wieder Leben. Die neuen Nutzer haben Ateliers, Werkstätten, Arbeits- und Veranstaltungsräume eingerichtet und die Gebäude so gut es ihnen möglich war instand gesetzt. Täglich finden Ausstellungen, Konzerte, Filmvorführungen, Lesungen, Diskussionen oder Workshops statt. Jede Woche kommen Hunderte von Besuchern und nutzen die kostenlosen Angebote. Das Gängeviertel ist zu einem unkommerziellen Stadtraum geworden – inmitten einer der teuersten Bürolagen Deutschlands. Möglich ist das durch den hohen unentgeltlichen Arbeitseinsatz der Akteure im Gängeviertel.

Komm in die Gänge

Die Besetzung wurde von einer Gruppe aus Künstlern, Kulturschaffenden, Studenten, Architekten und politischen Aktivisten sorgfältig vorbereitet. Viele von ihnen hatten zuvor durch Gentrifizierungsprozesse Ateliers und Wohnungen verloren oder waren von Mietsteigerungen bedroht. Auf dem Immobilienmarkt adäquate Räume zu finden, erschien den zumeist finanzschwachen Akteuren als aussichtslos: Die Mieten in Hamburg stiegen rasant und urbane Nischen für kulturelle Arbeit und günstiges Wohnen verschwanden zusehends. Statt gegenzusteuern und für günstigen Wohn- und Arbeitsraum zu sorgen, setzte die Stadtregierung auf teure Leuchtturmprojekte, die die Preisspirale weiter nach oben trieben. Gegen diese Politik wollten die Besetzer ein Zeichen setzen – und hatten ungeahnten Erfolg damit: Im Dezember 2009 gab der Senat dem öffentlichen Druck nach. Die Stadt Hamburg kaufte das Gängeviertel von dem Investor zurück und nahm das Verhandlungsangebot der Initiative über die weitere Entwicklung an. Allerdings erzielten die Initiative und die Stadt Hamburg erst nach zwei Jahren kräftezehrender Verhandlungen eine Einigung über die Sanierung und zukünftige Nutzung des Viertels.

Sanierung und Nutzungskonzept

Die Sanierung beginnt im September 2013 und wird voraussichtlich acht Jahre dauern. Stück für Stück werden die Häuser des Viertels auf Vordermann gebracht. Um die veranschlagten Sanierungskosten von knapp 20 Millionen Euro zu finanzieren, wurde das Gängeviertel zum Sanierungsgebiet erklärt. Daraufhin wurden Landesmittel zur Sanierung freigegeben. Weitere Mittel kommen vom Bund und der EU. Die private Stadtentwicklungsgesellschaft STEG wurde von der Stadt Hamburg als Treuhänderin eingesetzt. Sie koordiniert den Sanierungsprozess und verwaltet die Finanzen. Auch begleitende Maßnahmen wie die Organisation des öffentlichen Sanierungsbeirates werden von ihr umgesetzt. Allerdings stellt sie nicht den Architekten, wie bei vielen anderen Sanierungsverfahren in Hamburg. In den Verhandlungsrunden konnte gegenüber der Stadt durchgesetzt werden, dass ein unabhängiger Architekt beauftragt wird. Schließlich einigte man sich auf den Restaurator des Hamburger Michels, Joachim Reinig, der seitens des Gängeviertels vorgeschlagen wurde. Des weiteren wurde vereinbart, dass eine Baukommission mit Vertretern der Gängeviertel- Genossenschaft eingerichtet wird und alle Sanierungsmaßnahmen mit dieser abzustimmen sind.

Grundlage der zukünftigen Nutzung des Viertels ist das Nutzungskonzept der Initiative. Es wird derzeit schon umgesetzt – allerdings in unsanierten Gebäuden. Viele Nutzungen sind daher noch provisorisch eingerichtet. Das Nutzungskonzept wurde in öffentlichen Workshops nach der Besetzung erarbeitet. Es sieht vor, dass das Gängeviertel ein nicht kommerzieller Ort für Kunst, Kultur und soziale Projekte sein soll. Wohnen und Arbeiten sollen Hand in Hand gehen. In den Obergeschossen werden nach der Sanierung 79 öffentlich geförderte Wohnungen und Wohnateliers für rund 200 Menschen zur Verfügung stehen. Die Erdgeschosse stehen für Ateliers, Galerien und Läden zur Verfügung. Das Fabrikgebäude im Zentrum des Viertels wird auch zukünftig offene Ateliers, Werkstätten und Veranstaltungsräume beherbergen.

Selbstverwaltung und Gemeinschaft

Das zentrale Gremium für die derzeitige Selbstverwaltung sind wöchentliche Vollversammlungen. Sie finden mittwochs statt und stehen allen Aktiven und Interessierten offen. Dieses informelle Gremium kann aber kein ganzes Viertel verlässlich verwalten. Auch der 2009 gegründete Gängeviertel e.V. ist dazu nicht in der Lage. Nach vielen Recherchen, Gesprächen und hitzigen Vollversammlungen haben 35 Gründungsgenossen im Auftrag der Initiative die Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG gegründet. Denn für die Aktiven im Gängeviertel ist es nicht verhandelbar, dass das Viertel auch nach der Sanierung von ihnen selbst verwaltet wird. Das Leben in einer Gemeinschaft ist für viele Aktive die zentrale Motivation für ihr Engagement im Gängeviertel. Außerdem kann eine Gemeinschaft Nutzungskonflikte besser bewältigen. Das ist ganz besonders beim Gängeviertel relevant. Denn die Umsetzung des Nutzungskonzepts bedeutet, dass auf engstem Raum gewohnt und gearbeitet wird und ein intensiver Kulturbetrieb läuft. Konflikte, vor allem um Lärm, sind vorprogrammiert. Genossenschaften wie die des Gängeviertels sind gut geeignet, um Konflikte gemeinschaftlich zu lösen. Sie haben eine basisdemokratische Struktur. Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Anzahl seiner Anteile. Des Weiteren muss das Handeln von Genossenschaften an erster Stelle ihren Mitgliedern dienen. Genossenschaften sind nicht darauf ausgerichtet, Gewinne zu erzielen. Überschüsse bekommen die Mitglieder vergütet oder sie werden zum Wohle der Genossen angelegt oder reinvestiert.

Die Gängeviertel Genossenschaft 2010 ist eine Projektentwicklungsgenossenschaft. Parallel zur Sanierung wird ihre Arbeitsstruktur aufgebaut und Eigenkapital eingeworben, um die Verwaltung der Häuser nach der Sanierung vom städtischen Träger zu übernehmen. Dafür strebt sie einen Erbpachtvertrag mit der Stadt zu fairen Konditionen an. Fair bedeutet, dass die Stadt Hamburg auf Gewinne verzichtet und das jahrelange ehrenamtliche Engagement der Aktiven im Gängeviertel angemessen berücksichtigt. Doch die Stadt als Eigentümerin des Gängeviertels hält sich alle Optionen offen. Bisher hat sie sich noch nicht klar zur Selbstverwaltung durch die Genossenschaft bekannt und auch die Rahmenbedingungen müssen noch verhandelt werden. Um eine starke Verhandlungsposition einzunehmen, ist es für die Genossenschaft wichtig, Eigenkapital aufzubauen und dass sich weite Teile der Stadtgesellschaft mit ihr solidarisieren.

Komm in die Genossenschaft

Um ihr Ziel zu erreichen, ist die Genossenschaft auf Mitglieder angewiesen, die Anteile zeichnen, obwohl sie keine Flächen im Gängeviertel direkt nutzen möchten, sondern weil sie die Zukunft des Gängeviertels als einen nicht kommerziellen Ort für Kunst, Kultur und Soziales unterstützen. Ein Anteil kostet 500,– €. Anteile können wieder gekündigt werden und werden satzungsgemäß ausgezahlt. Das eingenommene Geld wird auf einem Treuhandkonto sicher verwahrt, bis die Genossenschaft die Verwaltung der Gebäude des Viertels aufnimmt. Trotzdem kann sich das nicht jeder leisten. Erst recht nicht diejenigen, die wenig Geld haben und auf die kostenlosen Angebote im Gängeviertel angewiesen sind. Daher baut die Genossenschaft auf die Solidarität der Hamburger und wirbt aktiv Kulturgenossen an. Unterstützt wird sie dabei von namhaften Hamburger Kulturschaffenden, unter anderem von dem früheren Kulturstaatsrat Gert Hinnerk Behlmer, dem Konzertveranstalter Karsten Jahnke und dem Generalintendanten der Elbphilharmonie Christoph Lieben-Seutter. Letzterer positioniert sich mit den Worten: „Ich bin Kulturgenosse, weil eine Elbphilharmonie allein noch keine Kulturstadt macht.“

Ein selbstverwaltetes Gängeviertel bereichert die Kulturlandschaft Hamburgs insgesamt und bedeutet eine lebendige Alternative zur investorenorientierten Stadtentwicklung. Jeder Anteilskauf trägt dazu bei, diese Alternative ein Stückchen tragfähiger zu machen. Davon profitieren nicht nur die Aktiven im Gängeviertel, sondern die Stadtgesellschaft als Ganzes. Daher heißt es nun: Komm in die Genossenschaft!

Michael Ziehl ist Dipl.-Ing. der Architektur und M.Sc. der Stadtplanung. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG und ordentliches Mitglied der Baukommission des Gängeviertels.

Informationen
Gängeviertel Genossenschaft 2010 eG

Gängeviertel e. V. (Hg.): „Mehr als ein Viertel – Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel“, Assoziation A, Hamburg 2012. – ISBN 978-3-86241-418-5

Ziehl, Michael: „Von der Produktion eines alternativen Stadtraums“. In Ziehl/Oßwald/Hasemann/Schnier (Hg.): „second hand spaces – über das Recyceln von Orten im städtischen Wandel“, JOVIS, Berlin, 2012, S. 164 – 175. – ISBN 978-3-86859-155-2

Zuerst veröffentlicht: Freihaus 19(2013), Hamburg