*** Ein Erfahrungsbericht von Sabine Skalla und Carsten Dohse ***
Im ersten Hauseingang wohnen zehn vollzeitbetreute behinderte Frauen und Männer der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA), dann kommt der langgestreckte Mittelbau mit 21 Erwachsenen und acht Kindern von der Wohngruppe „Domestos“ und schließlich „Wohntat“ mit 22 Erwachsenen und bald fünf Kindern. Das sind wir vom „Wendebecken“. Behinderte und nichtbehinderte Menschen in einem Wohnprojekt – geht das?
Wohnen in der Anstalt oder in der Wohnung – ein aktuelles Thema
Schon früh interessierte sich die Evangelische Stiftung Alsterdorf für unser Projekt. Raus aus der anstaltsartigen Unterbringung, rein in normaleres Umfeld war vor über fünf Jahren die Devise. Jost, ein Mitarbeiter der Stiftung, beteiligte sich engagiert an den regelmäßigen Sitzungen der Gruppe, die auf dem Gelände der ehemaligen Schiffsbauversuchsanstalt in Barmbek-Nord ein Wohnprojekt planten. Als es 1992 konkret wurde, mußte eine Entscheidung herbeigeführt werden. Die meisten von uns nicht behinderten Menschen hatten bisher eher wenig Umgang mit Behinderten. Teilweise bestanden Zweifel: Würden wir uns mit Ansprüchen überfrachten und im täglichen Umgang Schwierigkeiten haben? Wir haben bei diesen Diskussionen feststellt, wie sehr behinderte Menschen aus unserem Alltag verdrängt sind. Das wollten wir ändern. Wir sehen es als Bereicherung unseres eigenen Alltags und der Erfahrungswelt unserer Kinder an, mit Menschen zu leben, die anders sind. Nach dem Motto: Wer ist hier eigentlich normal?
Die 10 Menschen, die von der Stiftung kamen, haben sehr unterschiedliche Behinderungen und mußten sich erst einmal als Gruppe zusammenfinden. Das gilt auch für das Betreuungsteam, das im Schichtdienst rund um die Uhr arbeitet.
Miteinander wohnen
Zu unserem Jahreshöhepunkt gehört sicherlich das Sommerfest, das dieses Jahr am 27. Juni 98 gefeiert wird. Auf dem vorletzten Sommerfest war Schorsch motiviert von einer Mitarbeiterin die halbe Nacht tanzend aktiv. Ab und zu nimmt Inge (ca. 50 Jahre) begeistert im Rollstuhl an der Eltern-Kind-Gruppe teil. Noch immer ist es so, daß einige der behinderten BewohnerInnen schüchtern oder zum Teil nicht alleine in der Lage sind, sich selber aktiv einzubringen. Die hauptsächliche Motivation muß von den BetreuerInnen ausgehen. Aber leider ist die Personaldecke, wie in den meisten sozialen Einrichtungen, zu dünn.
Doch auch Leute aus den beiden anderen Wohngruppen können den Anstoß geben. Ob es nun um die Sommerfestaktivitäten, Ostereiersuchen oder mal einen Grillabend am Lagerfeuer geht, die Begeisterung über gemeinsame Aktivitäten ist bei allen Beteiligten groß. Unser behindertengerechter Gemeinschaftsraum wird von allen drei Gruppen, für Partys, Geburtstage, Kindergruppen, Heimbeirat und Tischtennis genutzt.
Im Garten ist nicht immer nur Sonnenschein
Wir haben einen großen Garten. Ein ESA-Bewohner bringt seine Erfahrung mit ein: Wolfgang hat schon, als er noch auf dem Alsterdorf-Gelände gewohnt hat, gegärtnert. Er wässert gerne die Pflanzen um den ESA-Wohnteil. Und wenn seine Gartennachbarin Sabine von „Domestos“ mal Urlaub macht, gießt er die Blumen gerne mit.
Doch neulich gab es dann auch mal Ärger und alle Beteiligten mußten lernen, daß es unterschiedliche Vorstellungen gibt, die man respektieren muß. Plötzlich waren alle Stauden vor Wolfgangs und Georgs Terrasse verschwunden, das Beet sozusagen plattgemacht. Als wir ihn fragten, was denn da passiert sei, sagte Wolfgang, daß die Blumen eben nichts mehr waren, mickrig und klein und deshalb habe er sie rausgenommen. Nun pflanze er nur noch Heide. Wütend hat seine Nachbarin Sabine den Stauden nachgeweint. Sie hat sich jedoch vorgenommen, mit Wolfgang zu einer Gärtnerei zu fahren und ihm ein paar Stauden zu spendieren, auf jeden Fall nicht nur Heide.
Zum Nachahmen empfohlen
Unsere anfänglichen Berührungsängste haben sich schnell verflüchtigt. Es ist toll zu sehen, wie unsere Kinder selbstverständlicher und schneller als wir Erwachsenen Kontakte mit den behinderten BewohnerInnen aufnehmen. Die Kinder wundern sich nicht, wenn Heidrun, wie sie selber auch, hinter den Katzen herjagt und Irmgart auf dem Balkon basketballgroße Wollknäule produziert. Auf dem Barmbeker Wochenmarkt trifft man schon mal auf Georg, wo er zunächst zu hören ist. Er beschallt nämlich mit seinem im Rollstuhl eingebauten Kassettenrecorder seine Umgebung mit Schlagern.
Sicherlich könnte es insgesamt mehr Berührungspunkte geben, doch auch das kann sich von allen Seiten her nur weiterhin freiwillig entwickeln.
Sabine Skalla ist Bewohnerin des Neubau-Projekts. Carsten Dohse ist Bewohner und war verantwortlicher Architekt. Beide gehören nicht zu den Behinderten.
Zuerst veröffentlicht: Freihaus 2(1998), Hamburg
Projektdaten „Wendebecken“:
- 3 Häuser 33 Wohnungen
- 53 Erwachsene und 13 Kinder
- 2300 qm Wohnfläche
- 8000 qm Garten
- Regenwassernutzung, Solaranlage, Ökologische Dämmstoffe
- Bauherrin: Wohnungsbaugenossenschaft Wendebecken
- Architekten: Carsten Dohse, Peter Windelen, Allan Mc Hardy
- Baubetreuung: Stattbau-Hamburg GmbH