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Stadtproduktion

Zwischen Regierungstechnik und Selbstbau

*** von Christopher Dell, Bernd Kniess, Dominique Peck und Anna Richter ***

Ein Gespenst geht um in Europa: Die Wohnungsfrage bricht in den letzten Jahren mit Wucht wieder auf. Während ihre Aktualität nicht zuletzt daher rührt, dass sie eine zutiefst soziale Frage ist, erfordert die Wohnungsfrage ein gesamtgesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Versorgung mit, des Verbrauchs und der Verteilung von Wohnraum.

Was aber geschieht? Es werden Wohnbauprogramme aufgelegt, Bündnisse geschlossen, gesetzte Zielmarken erfüllt, aber das Bauen scheint an den Bedürfnissen vorbei zu produzieren: „Falsche Wohneinheiten zu falschen Preisen an falschen Orten“.1) Zudem finden sich die Bürger nicht mehr in der Stadtentwicklung wieder, wie zahlreiche Protestbewegungen eindrucksvoll demonstrieren. All dies findet in einem nicht kontextlosen Rahmen statt: so sind schon die Bodenpreise zu teuer, während die Planungsvorschriften alternative Wohnformen auszubremsen scheinen. Was tun? Ist der Selbstbau eine Alternative?

Anlässlich der Hamburger Gespräche zur Baukultur konstatierte ein bayrischer Entwickler, dass in der Bauwirtschaft im Prinzip alles in Ordnung sei und weiter wie bisher gearbeitet werde. Ein Umdenken hinsichtlich der laufenden und geplanten Projekte und Umsetzungsweisen sei nicht notwendig: So gebe es auch keinen Boom im Selbstbau, genauso wenig wie in der modularen Bauweise, dafür aber im Baugewerbe, dessen Umsatz auch 2017 weiterhin kräftig steigt (Statistikamt Hamburg-Nord 19. Juni 2017).

Auch vor diesem Hintergrund sehen weder der Bund noch die Stadt Hamburg einen Bedarf für Selbstbau. Begründet wird dies damit, dass Selbstbau in Zeiten geringer und weiter abnehmender Arbeitslosigkeit seiner Grundlage entbehre, bzw. als Praxis wenig bis gar nicht in Erscheinung trete. In regierungstechnischer Hinsicht reduziert diese Erklärung den Selbstbau als Praxis auf eine Art Förderung für einkommensschwächere Haushalte und diskreditiert gleichsam ihr Potenzial als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Während diese Sichtweise in Bauwirtschaft und Politik vorherrscht, wird in der Stadtforschung deutlich differenzierter und weiter gedacht. Weil sie ein relationales Raumverständnis zugrunde legt, das Raum als sozial produziert versteht, nimmt die Stadtforschung vor allem den Gebrauch in den Blick. So wird erst im Alltags-Handeln ein Raum zum Kindergarten, zur Wohnanlage, zum städtischen Park, zur Universität oder zum Einkaufszentrum. Eine solche Perspektive auf die Produktion des Raums durch Gebrauch erlaubt eine differenziertere Sicht auf den Selbstbau, die jene Dimensionen erschließt, die in der Bau- und Immobilienwirtschaft und von Seiten der Stadt nicht wahrgenommen werden. Wenn Raum als sozial produziert verstanden wird, heißt das auch, dass ein Gebäude nicht mit der Schlüsselübergabe fertig ist, sondern im Gebrauch immer wieder neu ausgehandelt und in unterschiedlichsten Weisen weiter gebaut wird, in denen sich Wohnen bzw. Gebrauch und Bauen überlagern. Diese Form des Selbstbaus setzt zum einen den herkömmlichen Berechnungsgrundlagen der Bauwirtschaft Alternativen entgegen, zum anderen entsteht auch Wohnraum, der als Sache der Tat den gelebten Wohnweisen entspricht. Wie also Raum im Gebrauch immer potenziell veränderbar ist und von jeweiligen Nutzungen überformt wird, so geht der Begriff des Selbstbaus damit weit über eine sozialromantische Vorstellung des „Häuslebauens“ hinaus. Die Frage ist nicht länger, ob es billiger ist, bei bestimmten Gewerken selbst Hand anzulegen, sondern wer in die Raumproduktion wie eingebunden ist, welche Tätigkeiten und Handlungsbereiche als vorbestimmt gelten und wie die daraus entstehende Untätigkeit aufgebrochen werden kann, um ungenutzte und ungewohnte Fähigkeiten und Praktiken zu aktivieren. Ebenso wirft dies die Frage auf, welche regulatorischen Strukturen in der gegenwärtigen Raumproduktion zu Wirkmacht kommen. Insbesondere der Gebrauch und das Raumhandeln im Alltag treten mit einem erweiterten Begriff des Selbstbaus in den Vordergrund und ermöglichen es, diesen als Potenzial zu begreifen, der das Bauen mit dem tätigen Leben verbindet. Dies gilt nicht allein im Maßstab Haus sondern auch im Maßstab Stadt. In der Perspektive des relationalen Raumverständnisses beschränkt sich der erweiterte Begriff des Selbstbaus also nicht auf das Bauen eines Raumcontainers oder eines Gebäudes, sondern beinhaltet die Auseinandersetzung mit wesentlichen Prozessen, Bedingungen, Erwartungen und Anforderungen hinsichtlich Planung, Umsetzung und Gebrauch eines Bauvorhabens.

Fragestellungen zum erweiterten Selbstbaubegriff wurden in den letzten Jahren am Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design an der HCU erarbeitet. Aufbauend auf einer offenen oder aktiven Form, die der Konzeption des Arbeitens im Lehr- und Forschungsprogramm zugrunde liegt, wurde in unterschiedlichen Zeitdimensionen exemplarisch in Live Projects/Reallaboren der Selbstbau geprobt. So diente etwa das fünf Jahre andauernde Projekt Universität der Nachbarschaften (2009 – 2014) der Erforschung und aktiven Erprobung der Wechselwirkung zwischen Forschen, Gebrauch und (selbst) Bauen; das laufende Projekt Building a Proposition for Future Activities (2016 – 2018) der gemeinsamen Erarbeitung eines Begegnungshauses für neue und ansässige Nachbar*innen in Poppenbüttel im Rahmen des städtischen Programms „Flüchtlingsunterbringung mit der Perspektive Wohnen“.

Bei diesen Selbstbauprojekten ging und geht es darum, die Prozesse eines gemeinsamen Handelns nicht hinter einem Endprodukt verschwinden zu lassen. Das hat seinen Preis: Nur mit einer Ergebnisoffenheit – die in herkömmlichen Planungsund Bauvorhaben meist unerwünscht ist – können in epistemologischer Hinsicht neue Verfahrensweisen und eine Auseinandersetzung mit zukünftigen Gebräuchen und Nutzungen entstehen, die aus der Beschäftigung mit bereits existierenden Wohn-, Arbeits- und Freizeitpraktiken entwickelt werden.

Dass auch die Stadtverwaltung inzwischen die Dringlichkeit der Lage erkannt hat und sich für neue Richtungen öffnet, zeigt der Hamburger Integrationsfonds, der das Projekt Begegnungshaus in Poppenbüttel finanziell unterstützt und es mit dieser Förderung zu einem Projekt mit Modellcharakter erklärt. Im September 2017 folgt eine zweite Summer School mit Projekttagen und Planungsworkshop unter Einbeziehung alter und neuer Nachbar*innen, Auszubildender der G19 und internationaler Studierenden. 

1) Glucksberg, Luna (2016): Luxury as exclusion: the impact of global wealth on elite urban neighborhoods. Gastvorlesung zum Auftakt des Jahresthemas 2016/17
»Luxus. Raumpolitiken des Komforts« im Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design, HafenCity Universität Hamburg, 20.10.2016.

Die Autor*innen arbeiten im Lehr- und Forschungsprogramm Urban
Design an der HCU Hamburg.
Prof. Dr. Christopher Dell ist Musiker, Komponist und Philosoph und Gastprofessor für urbane Wissensformen, Organisationstheorie und relationale Praxis.
Prof. Bernd Kniess ist Architekt und Professor für Urban Design und Städtebau. Er gründete das Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design und leitete das IBA-Exzellenzprojekt Universität der Nachbarschaften.
Dominique Peck studierte Stadtplanung und Urban Design und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design.
Dr. Anna Richter ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 22(2017), Hamburg