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Artikel Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Von St. Pauli bis St. Peter

Wege ebnen für neue Wohn-Pflege-Projekte

*** von Ulrike Petersen ***

An der Nahtstelle zwischen eigener Häuslichkeit und Pflegeheim siedeln sich vermehrt Projekte an, die Wohnen und Pflegen im Alter auf neue und ungewohnte Weise verbinden. Der Bedarf an diesen abgestuften Wohn-Pflege-Angeboten, die in ihrer Größe überschaubar bleiben, Wert auf Alltagskultur, Privatsphäre und Gemeinschaft legen, wächst – vor allem für Menschen mit Demenz. Ihre Entwicklung ist politisch gewollt, ihre Umsetzung allerdings kein Selbstgänger. Zur Stärkung neuer Wohnkonzepte wurden in Hamburg und Schleswig- Holstein – sozusagen von St. Pauli bis St. Peter-Ording – spezielle Koordinationsstellen eingerichtet.

In Hamburg und Schleswig-Holstein sind gegenwärtig etwa 60.000 Menschen von Demenz betroffen, Tendenz steigend. In der Mehrzahl werden sie von Angehörigen und Pflegediensten zuhause betreut – so lange es eben geht. Doch familiäre Hilfen sind nicht unerschöpflich, soziale Netze selten über Jahre belastbar und Pflege in Einzelhaushalten rund um die Uhr nicht bezahlbar. Aus diesen Gründen ist Demenz nach wie vor Hauptindikator für den Umzug in ein Pflegeheim.

Altwerden in Gemeinschaft

Eine neue und vor allem für pflegende Angehörige entlastende Perspektive bieten ambulant betreute Wohn-Pflege-Gemeinschaften, die aufgrund bisheriger Praxis für eine Gruppe von etwa acht älteren Menschen geeignet erscheinen: Eigene Häuslichkeit, eigener Mietvertrag, eigene Möbel, gewohnte Alltagsabläufe, soziale Nähe und Platz für Individualität. Es gibt keinen „WG-Betreiber“, denn die Angehörigen bzw. rechtlichen Betreuer sind Schlüsselpersonen im Projektgeschehen. Sie übernehmen Verantwortung, nicht jedoch die Pflege und Hauswirtschaft. Als Auftraggebergemeinschaft wählen sie einen Pflegedienst, der für die 24stündige Betreuung und Versorgung zuständig ist. Projekte, in denen die Entscheidungshoheit konsequent erkennbar in den Händen der Mieterschaft (bzw. deren Vertreter) liegt, in denen Einzelmietverträge unabhängig von den bedarfsgerechten individuellen Pflege- und Betreuungsverträgen geschlossen werden, fallen nicht unter das Heimgesetz.

Netzwerke für Qualität, Planungssicherheit und Praxistransfer

Die Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften (seit 2005) und KIWA – Koordinationsstelle für innovative Wohn- und Pflegeformen im Alter in Schleswig-Holstein (seit 2007) sind neben ihrer Beratungs- und Informationstätigkeit zentrale Netzwerkagenturen mit dem Auftrag im jeweiligen Bundesland, Wege für eine ausgewogene und vielfältige Projektentwicklung zu ebnen. Unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten verfolgen sie das Ziel, in Kooperation mit allen Beteiligten förderliche Rahmenbedingungen, d. h. in erster Linie Qualitäts- und Planungsgrundlagen sowie Verfahren für den kontinuierlichen Praxistransfer zu schaffen.

Ein langfristiger Arbeitsauftrag, denn dass Zahl und Bekanntheitsgrad der neuen Projekte in Hamburg und Schleswig- Holstein (noch) überschaubar sind, hat seine Gründe. Sie passen nicht Eins zu Eins in vorhandene Strukturen: Die Suche und Gestaltung geeigneten Wohnraums, die komplexen Abstimmungen mit Kostenträgern, Heimaufsichten und Förderstellen sowie die Konstituierung wirksamer Angehörigenkollektive sind alles andere als Routinearbeit.

Auch auf Seiten der Pflegedienste ist Neuorientierung nötig: Mit dem Status eines „Rund-um-die-Uhr-Gastes“ sind sie – nicht ohne ein gewisses wirtschaftliches Risiko – permanent ambulant zuständig für Alltagsbetreuung und Pflege einer Gemeinschaft von Menschen mit Demenz.

Das Potential qualitativ neuer Wohnangebote und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung sind an eine Reihe von Fragen geknüpft. Zum Beispiel daran, wie sich die Kosten für Pflege und Betreuung vor dem Hintergrund der Sozialgesetzgebung entwickeln und ob die Einbindung neuartiger Wohnprojekte in das Gemeinwesen gelingt. Von daher sind passgenaue Finanzierungsmodelle mit einem Optimum an Flexibilität und möglichst wenig Verwaltungsaufwand gefragt. Nicht weniger entwicklungswürdig sind Konzepte für bürgerschaftliches Projektengagement in Form von Ombudsleuten, Patenschaften oder Beiräten, denn ohne Öffnung, ohne Bezug und Beziehungen zum Umfeld geraten Wohngemeinschaften und die dort lebenden Menschen mit Demenz ins Abseits. Diese Aufgaben stehen im Blickfeld der jeweiligen Koordinationsstelle und sind zugleich Bestandteil einer bundesweiten Diskussion, an der sich Hamburg und Schleswig-Holstein beteiligen.

Ulrike Petersen ist Sozialwissenschaftlerin, Gerontologin und Mitarbeiterin der Koordinationsstellen in Hamburg und Schleswig-Holstein.

Leitfaden für ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz

Die Hamburger Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz und die Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V. haben einen Leitfaden für Angehörige für Menschen mit Demenz veröffentlicht, um die Gründung von ambulanten Wohngemeinschaften zu unterstützen. Der Leitfaden enthält Informationen zum Aufbau einer Gruppe, zur Finanzierung und zur Entlastung durch den Einsatz eines Pflegedienstes. Der Leitfaden kann im Internet unter www.bsg.hamburg.de oder www.pflege.hamburg.de heruntergeladen werden.

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 14(2007), Hamburg