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Artikel Stadtentwicklung Wohnprojekte Hamburg Wohnungspolitik

Wie beeinflussen demografische Entwicklungen die Wohnform?

Erfahrungen aus dem
Wohnprojekt Drachenbau

*** von Andrea Gottschalk und Michael Schulzebeer ***


Drachenbau ist eines der ältesten kleingenossenschaftlichen Wohnprojekte in Hamburg. Die beiden Gründungsmitglieder Andrea Gottschalk und ­Michael Schulzebeer berichten mit einer Erfahrung von über 35 Jahren über die Veränderungen der Wohnformen im Projekt.

Nach mehrjähriger Suche stießen wir1 1984 auf ein altes Fabrikgebäude im Innenhof zwischen Koppel und Schmilinskystraße, das für unsere Vorstellungen von gemeinschaftlichem Wohnen geeignet erschien. Wir hatten eine ganze Reihe von Ideen und Zielen, durchaus auch in Bezug auf die Ökologie (Nachhaltigkeit war damals noch kein Begriff). In diesem Beitrag beleuchten wir die Entwicklung in Hinsicht auf Wohnform und demografische Veränderungen.2

Neben dem ehemaligen Fabrikgebäude (in der Zeichnung unten Nr.1) gehört zum Projekt das Wohnhaus Schmilinskystraße 6, das wir mitsamt den Mietern von der Sprinkenhof-AG übernommen hatten (Nr.3). Nach der notwendigen Totalsanierung (Schwamm in allen Decken!) sind einige der Mieter in ihren von der Stadt bereitgestellten Übergangswohnungen geblieben, so dass wir unsere Gruppe erweitern konnten. Im Erdgeschoss befindet sich „unser“ Fahrradladen.

Außerdem übernahmen wir zwei angrenzende Baulücken: In der Schmilinskystraße 4 (Nr.2) eine schmale und in der Koppel eine breitere (Nr.4), auf denen wir 1988/89 zwölf weitere Sozialwohnungen (1.FöWeg) realisieren konnten – im Wesentlichen für Alleinwohnende und kleine WGs bzw. kleine Familien. 1990 lebten in unseren vier Häusern ca. 75 Menschen.

Der Großteil der Gründungsmitglieder bestand aus Eltern mit noch kleinen Kindern. Es ist also nicht verwunderlich, dass als Motto über dem ganzen Projekt stand: Leben mit Kindern in der Stadt.

GEMEINSCHAFTLICH LEBEN MIT KINDERN IN DER STADT

Die Grundrisse der Wohnungen berücksichtigten die besonderen Interessen der Kinder: Kinderzimmer und ein gemeinsamer Kinderspielbereich, der von der Welt der Erwachsenen getrennt war und ihnen das ungestörte Spiel garantierte. So mussten abends z.B. keine angefangenen Spiele weggeräumt werden etc.

Die Kinder wurden schnell zu unseren Kindern, die betreut, getröstet, gesättigt und gesäubert werden wollten – von allen, nicht nur von den jeweiligen Eltern. Es gibt den von den älteren Kindern geprägten Begriff des „Hofkinds“, ihr Selbstverständnis – als Logo gedruckt auf T-Shirts, die auch die nachfolgenden Generationen wie einen Adelsschlag überreicht bekamen.

Die Wohnungstüren hatten Klinken und waren offen, d.h. die Kinder konnten auch überall in Not oder mit Freude eintreten. Es gab über 12 Jahre lang Schulkindergruppen, in denen die Kinder nach der Schule begrüßt wurden, ihre Sorgen teilen konnten und Essen bekamen. Es gab ein Kinderplenum, das unregelmäßig, aber in seinen Beschlüssen mit Nachdruck tagte. Auch ein Ort, an dem Konflikte mit den Erwachsenen besprochen wurden.

Der Projektgedanke ist vielen der Kinder eingepflanzt. Sechs von ihnen zogen später in das Projekt PlanB, drei engagieren sich bei der Wohngruppe Malwine, einer begründete die Bunte Bande mit,
die ins Pergolenviertel zog. Drei sind zu uns zurückgekommen. Die anderen haben sich zumindest bewusst mit dem möglichen Projekt auseinandergesetzt, sich gefragt, ob das auch ihre Perspektive ist, auch wenn sie es dann ablehnten.

Aber: Die Kinder wachsen raus, die Wohnungen leeren sich und es gibt kein Konzept gegen diesen Leerstand, sondern immer persönlich zugeschnittene Lösungen.

DIE WOHNGEMEINSCHAFTEN

Wir haben mit fünf großen WGs angefangen. Die größte bestand aus sechs Erwachsenen und vier Kindern. Die Kinder hatten ihren Bereich, die Erwachsenen den ihren und es gab große Küchen mit Essplätzen für über 10 Menschen, immer Platz für alle, die dazu kamen.

Parallel zum Erwachsenwerden der Kinder trennten sich immer wieder WGs, kamen an ihre Grenzen, waren nicht sehr geübt in der internen Lösung von Konflikten, trugen ihre Probleme in das Projekt, auf das Plenum und suchten nach wohnungstechnischen Lösungen.

Wir waren immer bemüht für alle Konflikte Lösungen zu finden, haben uns dazu auch zweimal externe Hilfe geholt. Drachenbau baute dann um. Hier Wände rein, dort raus. Die Lösungen gingen z.T. auf Kosten von Gemeinschaftsflächen des Gesamtprojektes oder innerhalb der Wohnungen.

Das Ergebnis: Die Wohnungen werden von Paaren ohne Kinder bewohnt. Es ging nicht darum das Prinzip gemeinschaftliches Wohnen in Wohngemeinschaften aufrecht zu erhalten, sondern um die Bedürfnisbefriedigung der einzelnen Menschen, für sie im Projekt eine Lösung zu finden. Das Ergebnis war weniger Menschen auf gleicher Wohnfläche. Dies gilt besonders für das Hinterhaus.

VERÄNDERUNG DER WOHNFORM AM BEISPIEL DES HINTERHAUSES

Das viergeschossige Fabrikgebäude haben wir mit viel Eigenleistung zum Wohnhaus von ca. 1.000 m² Fläche + ca. 100 m² Gemeinschaftsräumen umgebaut und 1987 mit den ersten fünf Wohngemeinschaften bezogen. Dazu gehört noch der Anbau mit Schornstein, der bis heute unverändert zwei kleine Wohnungen und eine Metallwerkstatt beherbergt. Betreut wurden wir übrigens von der gerade gegründeten STATTBAU HAMBURG.

Wir betrachten hier die Veränderungen in dem WG-Teil des Hinterhauses mit den fünf Wohngemeinschaften, davon zwei sehr große Maisonettewohnungen in den oberen Geschossen. Insgesamt wohnten 1988 hier 35 Menschen.

16 Jahre später sind drei der fünf Wohnungen geteilt, eine sogar zweimal. Es sind jetzt neun Wohnungen, alle von Familien bewohnt, in jeder Wohnung noch mindestens ein Kind bzw. Jugendliche/r. Im Jahr 2004 wohnten hier insgesamt 26 Menschen.

Weitere 19 Jahre später sind alle Kinder groß und ausgezogen. Eines ist als Vater zurückgezogen mit den ersten Enkeln. Eine weitere Wohnung wurde geteilt. Aus fünf Küchen wurden also 10. Und von den Familien sind die Eltern übriggeblieben als Paare. Das ist eine Wohn- und Lebensform, die 1986 niemand von uns im Blick hatte. 2022 wohnen hier insgesamt 21 Menschen.

Wenn wir auf den ganzen Drachenbau schauen, ist die Entwicklung nicht so extrem, aber die Tendenz ist die gleiche. Am Anfang dominieren die WGs, heute die Paar-Wohnungen (siehe Grafik oben zu den Wohn- und Lebensformen).

ALTERSSTRUKTUR

Beim Blick auf die Altersstruktur ist es nicht verwunderlich, dass in der Gründergeneration das mittlere Alter überwiegt. Heute sind wir eben älter geworden und trotzdem noch da! Die Jugend ist ausgezogen und nur wenig ergänzt (siehe Grafik oben zur Altersstruktur).

Und wir sind weniger geworden (um etwa 20%) Damit hat sich natürlich der Pro-Kopf-Anteil der Wohnfläche erhöht. 1990 hatte jeder Bewohner durchschnittlich 36 m², heute fast 45 m². Das sind übrigens Werte, wie sie etwa auch für die ganze Hamburger Bevölkerung gelten.

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Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg