Kategorien
Artikel Rechtsform/Genossenschaft Wohnprojekte national/international

Dachgenossenschaft Wohnen Tübingen

Ein Dach für gemeinwohlorientierte Wohninitiativen

*** von Julia Hartmann und Axel Burkhardt ***

In der aktuellen Krisenzeit stellen sich Fragen nach der langfristigen Sicherung gesellschaftlicher und individueller Existenzgrundlagen – im Rah­men gesellschaftlichen Wandels und der Trans­formation zu nachhaltigem Wirtschaften – mit er­neuter Dringlichkeit. Was können Land, Städte, Gemeinden und Zivilgesellschaft tun, um einen Umgang mit den anstehenden Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte zu finden, der das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt? Ein Ansatz ist die Förderung resilienter lokaler Struk­turen, Quartiere und Nachbarschaften. Die Schaf­fung eines unterstützenden Wohnumfelds, aber auch ganz grundsätzlich die Verfügbarkeit siche­ren, angemessenen Wohnraums bildet einen wich­tigen Baustein dieser Bemühungen.

In vielen Gemeinden führt die Knappheit an be­zahlbarem Wohnraum bereits dazu, dass nicht nur geringverdienende Haushalte, sondern auch solche mit mittlerem Einkommen Schwierigkeiten haben, sich mit passendem Wohnraum zu versorgen. Dies gilt insbesondere für Haushalte mit Kindern, die eine geringere Flexibilität bei der Wahl des Wohn­standorts haben, aber auch in verstärktem Maße für ältere Menschen, die auf der Suche nach alters­angepassten Wohnformen sind. Insbesondere in ländlichen Gemeinden führt der demographische Wandel zu einem steigenden Bedarf an barriere­armen Wohnungen mit flexiblen, ambulanten Be­treuungsleistungen, der durch die derzeitige Pflege­infrastruktur nicht abgedeckt wird. Parallel dazu wächst auch der Wunsch nach Wohnmöglichkeiten mit mehr oder weniger ausgeprägten gemeinschaft­lichen und generationsübergreifenden Elementen.

Alle Menschen profitieren von flexiblen, lebens­phasengerechten Wohnangeboten und bedarfs­gerechten, wohnortnahen Dienstleistungen und Möglichkeiten für Gemeinschaftsleben. Wohn­formen, die über die individuelle Wohnung hinaus solche Angebote machen, können einen wichti­gen Beitrag zur Resilienz unserer Städte und Ge­meinden leisten.

Gemeinwohlorientierte, bürgerschaftliche Ini­tiativen entwickeln individuelle, auf lokale Bedarfe abgestimmte Wohnformen und -konzepte und sind mit ihrem hohen Grad an Eigenengagement oft flexibler und innovativer als große Unternehmen. Genossenschaftliche Wohnformen sind eine ge­eignete Organisationsform für solche Initiativen. Die Mitgliedschaft in einer Wohngenossenschaft bietet die Sicherheit eines lebenslangen Wohn­rechts und die dauerhafte Sicherung von Projekt­zielen. Ihre demokratische Grundstruktur bietet auch die ideale Basis für eine selbstbestimmte, ge­meinschaftliche Gestaltung des Wohnumfelds.

Sowohl in städtischen als auch in ländlichen Kontexten entstehen derzeit eine Vielzahl von Ini­tiativen, die auf der Suche nach mehr als nur einer passenden Wohnung sind. Die Menschen hinter diesen Initiativen sind bereit, sich mit Ideen und Zeit einzubringen, um selbstbestimmt Lösungen für ihre Wohnbedürfnisse zu schaffen. In Orten mit Wohnraummangel und steigenden Wohnkosten spielt vor allem die langfristige Bezahlbarkeit eine Rolle.

Eine Dachgenossenschaft für gemeinwohl­orientierte Wohninitiativen

Auch in Tübingen haben sich solche Initiativen bereits vielfach auf den Weg gemacht. Die Initia­tor*innen stehen bei der Umsetzung jedoch häufig vor finanziellen und organisatorischen Problemen. So haben Menschen in der Posterwerbsphase oft Schwierigkeiten, passende Bankfinanzierungen zu erhalten.

Gründungsaufwand, Vorstandsverantwortung sowie laufendes Management und Verwaltung sind für junge Initiativen allein oft schwer zu stemmen. Ein möglicher Weg scheint der Beitritt zu einer be­stehenden Genossenschaft. Insbesondere sehr kleine, lokale Projekte werden jedoch von den be­stehenden Marktakteuren nicht unterstützt oder in der autonomen Gestaltung und Selbstverwaltung ihrer Projekte zu stark eingeschränkt.

Zudem sind neue, eigenständige Projekt­genossenschaften mit hohen Grundstücks- und Baukosten konfrontiert. Sie müssen das zum Neu­bau oder Erwerb notwendige Eigenkapital (derzeit bis zu 35 %) vollständig aus den Beiträgen der woh­nenden Mitglieder erbringen.

Das Angebot der neu gegründeten und vom Land Baden-Württemberg als Pilotprojekt ge­förderten Dachgenossenschaft Wohnen Tübingen gleicht diese Nachteile aus: Zum einen übernimmt sie Gründungs-, Bau- und laufende Verwaltungsauf­gaben und stellt so ein professionelles Management der Projekte sicher. Zum anderen ermöglicht sie auch Menschen mit geringen ökonomischen Res­sourcen Zugang zu einem dauerhaften Wohnrecht in einem neuen genossenschaftlichen Hausprojekt. Dazu hält die Dachgenossenschaft einen Sozial­fonds vor, der die Anteile von Mitgliedern ohne eige­nes Vermögen stellvertretend übernimmt. So kön­nen Menschen aus allen ökonomischen Schichten von den stabilisierenden lokalen Unterstützungs­strukturen profitieren, die genossenschaftliche Hausprojekte bieten. Der Fonds wird aus privaten und öffentlichen Mitteln finanziert und wird sich langfristig aus den Erträgen der Genossenschaft refinanzieren.

Die Universitätsstadt Tübingen nimmt als Ini­tiatorin der Dachgenossenschaft eine Schlüssel­funktion ein und ist für diese Rolle gut aufgestellt: Kommunen sind demokratisch legitimiert und wer­den als neutraler Partner wahrgenommen. Sie ken­nen die lokale Initiativ- und Akteurslandschaft, können diese zusammenführen und Starthilfe bei der Gründung eines genossenschaftlichen Dach­projektes geben. Über ständige Sitze im Aufsichts­rat fließt die kommunale Perspektive dauerhaft in die Entscheidungsprozesse der Genossenschaft ein. Als Garantin für langfristig bezahlbaren Wohn­raum ist die Genossenschaft ein bevorzugter Part­ner bei der Vergabe kommunalen Baulands.

Ein solcher Einsatz öffentlicher Mittel unter­stützt zivilgesellschaftliches Engagement und löst erhebliche private Investitionen aus. Die Bautätig­keit der Genossenschaft finanziert sich aus ver­schiedenen Quellen und etabliert zudem regionale Wirtschaftskreisläufe, die insbesondere in Zei­ten wirtschaftlicher Krisen stabilisierend auf das regionale Umfeld wirken. Damit bildet die Dach­genossenschaft einen lebendigen Baustein einer resilienten Stadtentwicklung.

In Tübingen finden Initiativen auf diesem Wege trotz Baukrise, Zinssteigerungen und Bodenknapp­heit ideale Rahmenbedingungen: Die Grundstein­legung für die ersten beiden Projekte Weiler11 und Heckpilot ist dieses Jahr erfolgt. Weitere Initiativen machen sich bereits auf den Weg.

Julia Hartmann und Axel Burkhardt, Beauftragte für Wohn­raum und barrierefreies Bauen der Universitätsstadt Tübingen

zuerst veröffentlicht: FREIHAUS 27(2023), Hamburg