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Ecovillage Hannover

Nachhaltiges, suffizientes
und basisdemokratisches Bauen für die Zukunft

*** von Lena Bruns, Hans Mönninghoff und Gerd Nord ***

In Hannover entsteht bis 2028 ein neues Stadtquartier für ca. 1.000 Menschen. Die Vision: Gemeinschaftliches Leben mit geringstem ökologischen Fußabdruck, hohem sozialen Standard und einer suffizienten Lebensweise der Bewohner:innen. Es wird gleichzeitig nachhaltiger und bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Umgesetzt wird das Projekt in einem in Europa so noch nicht dagewesenen umfangreichen Beteiligungs- und Planungsprozess der zukünftigen Bewohner:innen.

Das knapp 50.000 m² große Grundstück liegt an der Grenze zwischen intensiver Stadtbebauung und offener Landschaft. In 13 Wohnhöfen werden die Gebäude in Holzbauweise errichtet, dabei wird eine vielfältige Gestaltung durch die Zusammenarbeit mit 12 Architekturbüros gesichert. Außerhalb der einzelnen Wohnhöfe entsteht ein Grünzug mit 4.000 m² Urban-Gardening-Fläche. Zusammen mit einer benachbarten Bio-Gärtnerei und einem angrenzenden Landschaftsschutzgebiet wird ein sehr grüner, autofreier Stadtteil mit hoher Aufenthaltsqualität entstehen.

EINE STÜRMISCHE ENTWICKLUNG!

Das Projekt startete im Januar 2019 durch eine Initiative des Vereins Transition Town Hannover, der Lauben in einer Kleingartenanlage zu dauernd bewohnten „Tinyhäusern“ umbauen wollte. Das scheiterte jedoch am Widerstand der Kleingärtner. So wurde ein Neubauprojekt angedacht. Im Oktober 2019 wurde die Wohnungsgenossenschaft gegründet, die heute schon fast 900 Mitglieder hat. Neben extrem viel ehrenamtlicher Arbeit fließt heute die Arbeitskraft von einem hauptamtlichen Vorstandsmitglied und fünf Mitarbeiter:innen in den Planungsprozess.

STRUKTUR DER ZUKÜNFTIGEN BEWOHNERSCHAFT

Die Zusammensetzung der Genossenschaftsmitglieder entspricht hinsichtlich Alter, Einkommen und Sozialstruktur weitgehend dem hannoverschen Bevölkerungsdurchschnitt. Von den ungefähr 500 Wohneinheiten werden 40% mit Wohnungsbaumitteln von Land/Region/Stadt Hannover gefördert. Neben getrennten Wohnungen entstehen
„Cluster-Wohnungen“, bei denen die Bewohner:innen jeweils ein ca. 20 – 35 m² kleines aber voll funktionsfähiges Einzelappartement haben und eine große Küche und ein großes Wohnzimmer gemeinsam nutzen.

BETEILIGUNG DER ZUKÜNFTIGEN BEWOHNER:INNEN AN DER QUARTIERS- UND BAUPLANUNG

Über 200 Personen haben an der Quartiersplanung mitgewirkt. Nicht wie sonst üblich haben Stadtplaner:innen den Masterplan erarbeitet und eine Jury über ein Wettbewerbsverfahren entschieden, sondern die zukünftigen Bewohner:innen haben in einem ersten Schritt unter Koordination des Amsel Kollektivs Braunschweig ein „Wunschbuch“ entwickelt. Darauf aufbauend entwickelten sieben Planungsteams in Rückkopplung mit den zukünftigen Bewohner:innen Vorschläge für den Quartiersmasterplan. Eine Fachjury empfahl drei Entwürfe zur Schlussentscheidung durch die Genossenschaftsmitglieder. Diese entschieden sich in einer Mitgliederversammlung für den Entwurf des Teams Studiomauer/Cityförster.

Auch bei der Planung der einzelnen Gebäude gibt es eine intensive Beteiligung von Bewohner:innen. Jedes Haus hat ein Patenteam, das mit den Architekt:innen zusammenarbeitet – jeder zukünftige Wohnhof bildet eine Arbeitsgruppe, die sich an der Planung von Freiflächen und Gemeinschaftsbereichen beteiligt und in die übergreifenden Entscheidungsstrukturen der Genossenschaft eingebunden ist.

SUFFIZIENZ

Entstehen soll ein „Quartier der Genügsamkeit“. Die Reduktion des Ressourcenverbrauchs durch selbstbegrenzende Lebensweisen und gemeinschaftliche Lebensformen soll dabei im Mittelpunkt stehen.

Wichtigstes Element der Genügsamkeit ist die Wohnungsgröße. Ziel ist, dass jede im Ecovillage wohnende Person nicht mehr als 25 bis 30 m² individuellen Wohnraum nutzt. Maximal zulässig sind für alle Bewohner:innen die Obergrenzen des öffentlich geförderten Wohnungsbaus. Neben dem individuellen Wohnraum wird es umfangreiche Gemeinschaftseinrichtungen geben.

TINYLIVING STATT TINYHÄUSER

Ausgelöst durch den Titel in einem Zeitungsartikel „Hier entsteht die größte Tinyhaussiedlung Europas“ meldeten sich eine Vielzahl von Leuten aus ganz Deutschland, die auf der Suche nach einem attraktiven Stellplatz für ihr mobiles Tinyhaus waren. Heute stehen wir dem klassischen Tinyhauskonzept recht kritisch gegenüber: Als Zugeständnis an die Gründungsgeschichte bleibt das Angebot für ca. 50 Stellplätze für private mobile Einheiten erhalten. Es dürfen jedoch nur Gebäude aufgestellt werden, die möglichst weitgehend ökologische Baustoffe nutzen und einen maximalen Energieverbrauch von 100 kWh/m² haben.

DAS ENERGIE- UND STOFFKREISLAUFKONZEPT

Ecovillage wird vollständig klimaneutral: Sämtliche Energie für Heizung, Warmwasser, ­E-Mobilität und Haushaltsstrom kommt in der Jahresbilanz vollständig aus dem Quartier selbst. Hierfür werden der Großteil der Dachflächen mit Photovoltaik (PV) belegt und ein Erdsondenfeld versorgt die in Passivhausbauweise errichteten Gebäude mit kalter Nahwärme. Regenwasser wird fast vollständig auf dem Grundstück versickert und verdunstet. Die quartiersinterne Grauwasseraufbereitung in einer Pflanzenkläranlage reduziert den Trinkwasserbedarf um etwa die Hälfte. Außerdem wird auf den ersten beiden Baufeldern ein Forschungsprojekt mit Spül-Trenntoiletten und Aufarbeitung des Urins zu Dünger umgesetzt.

Lena Bruns, Architektin, arbeitet im Amsel Kollektiv für Architektur und Stadtforschung. Hans Mönninghoff, ehemaliger Umweltdezernent und erster Stadtrat der Landeshauptstadt Hannover, ist Aufsichtsratsvorsitzender der ecovillage hannover eG. Gerd Nord ist Architekt und Stadtplaner und Vorstandssprecher von ecovillage hannover eG.

Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg