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Ziel muss es sein, immer die ganze Stadt in den Blick zu nehmen

Interview mit Dr. Anjes Tjarks, Senator für Verkehr und Mobilitätswende in Hamburg

*** Gesprächsführung: Katrin Brandt und Louis Spangehl ***

In Hannover entsteht bis 2028 ein neues Stadtquartier für ca. 1.000 Menschen. Die Vision: Gemeinschaftliches Leben mit geringstem ökologischen Fußabdruck, hohem sozialen Standard und einer suffizienten Lebensweise der Bewohner:innen. Es wird gleichzeitig nachhaltiger und bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Umgesetzt wird das Projekt in einem in Europa so noch nicht dagewesenen umfangreichen Beteiligungs- und Planungsprozess der zukünftigen Bewohner:innen

STATTBAU: Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wird aktuell viel diskutiert. Wie stehen Sie als Verkehrssenator zu diesem Konzept? Und bedeutet die Umsetzung für Sie mehr, als Hamburg in eine Fahrradstadt umzubauen?

Tjarks: Ich finde das Konzept der 15-Minuten-Stadt sehr interessant, ich glaube allerdings nicht, dass es der einzige Fixpunkt der Politik sein sollte, obgleich es im Bereich der Verkehrsplanung und der Stadtentwicklung ein wichtiges Konzept ist. Neben der fahrradgerechten Stadt und der 15-Minuten-Stadt wäre das zum Beispiel die menschengerechte Stadt. Alle diese Konzepte zeigen, dass Verkehrsplanung und Stadtentwicklung Hand in Hand gehen müssen. Wir können Radwege bauen und mit kluger Stadtplanung Wege verkürzen und sie zum Teil auch überflüssig machen. Dadurch können wir die Stadt und das Leben der Menschen besser machen. Wenn die Dinge des täglichen Bedarfs innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht werden sollen, muss die Stadt anders gedacht werden. Dafür brauchen wir ein polyzentrisches Raumkonzept, welches auch die Bezirks- und Stadtteilzentren fördert, sodass die Dinge des täglichen Bedarfs auch dort vorhanden sind. Dadurch werden im Umkehrschluss die Hauptverkehrsrelationen zwar nicht an Bedeutung verlieren aber idealerweise zumindest weniger Verkehr aufnehmen müssen.

STATTBAU: Wie sehen Sie denn den Zusammenhang zwischen Stadtteil und Stadt insgesamt? Die HafenCity wirbt beispielsweise damit, eine „10-Minuten-Stadt“ zu sein. Lässt sich das Konzept tatsächlich stadtteilweise umsetzen, oder braucht es Antworten für die Gesamtstadt? Wie sehen sie dabei die Rolle Ihrer eigenen Behörde und mit wem können Sie sinnvollerweise zusammen-arbeiten?

Tjarks: Es sollte möglich sein, dass Menschen dort arbeiten können und alles für ihren Lebensunterhalt finden, wo sie auch wohnen. Das geht aber natürlich über die Idee von Wohnen und Arbeiten hinaus: Gute Schulen, Kitas, Ärzte- und Gesundheitszentren, lokaler Handel, aber auch Freizeit-angebote. Wir sind verpflichtet, das Service- und Qualitätsniveau für die Bürger*innen in allen Teilen der Stadt zu erhöhen und nicht nur in einigen zentralen ausgewählten Bereichen. Zusammengenommen entsteht das Bild einer funktionsfähigen Stadt.

Dafür kann die HafenCity ein Beispiel sein. Dennoch ist bei der HafenCity zu beachten, dass es sich zwar um eine walkable City handelt, sie aber so konzipiert ist, dass man durchfahren kann und sie für den Autoverkehr als Überlauffunktion zur Innenstadt dient. Trotz des guten Anschlusses an den ÖPNV ist gerade die westliche HafenCity sehr autogerecht geplant und konzipiert. Bei der Verkehrsplanung wurde mit einem sehr hohen Autoaufkommen gerechnet, was glücklicherweise so nicht eingetreten ist. Im östlichen, neueren Teil ist das schon wesentlich besser und multi-modaler geplant worden.

Ziel muss es sein, immer die gesamte Stadt in den Blick zu nehmen – und das ist eine wichtige Botschaft! Die Rolle meiner eigenen Behörde besteht dabei darin, auch in den lokalen Konzepten mit den Bezirken die ent-sprechenden Wege zu schaffen. Wenn beispielsweise ein gutes Angebot an Ärzten da ist, muss man dort auch hinkommen können. Wir gehen immer selbstverständlich davon aus, dass es so ist, aber in vielen Fällen geht es eben auch noch besser.

STATTBAU: Wenn man das mal runterbricht von der Stadt, über den Stadtteil bis zu den Quartieren und den einzelnen bauenden Akteur*innen. Was wünschen Sie sich von denen, gerade von Baugemeinschaften? Was ist deren Rolle?

Tjarks: Baugemeinschaften bringen eine neue Identität in ein Neubauquartier. Bereits im Prozess der Gründung von Baugemeinschaften haben diese eine Identität aufgebaut. Dabei definieren sie ihre Ziele und sagen: Wir wollen eine Gemeinschaft sein. Das strahlt entsprechend auch von Anfang an auf das Viertel ab. Hinzu kommen gewisse Auflagen, dass Grundstücke nur unter bestimmten Bedingungen vergeben werden. Beispielsweise, dass im Erdgeschoss eine Gewerbefläche errichtet werden muss, um den lokalen Einzelhandel zu stärken, oder in dem bei diesen Bauvorhaben ein gewisser Anteil der Wohnungen für Menschen mit Behinderungen vorhanden ist. So können beispielsweise andere Mobilitätskonzepte entstehen, die wenig bis keine Autos enthalten und trotzdem eine hohe Mobilität gewährleisten. Das alles prägt die Identität der gesamten Nachbarschaft und führt dazu, dass sich ein Viertel gestaltet, gerade in Bezug auf eine menschengerechte Stadt.

Sie haben jetzt schon öfter die menschengerechte Stadt erwähnt. Was ist das denn? Und wie steht sie zur autogerechten Stadt?

Tjarks: Wir müssen uns damit beschäftigen, wie unser Körper aufgebaut ist. Der letzte Rektor der Uni Hamburg vor der NS-Zeit, Ernst Cassirer, war Philosoph und sein Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Form“ befasst sich mit der Verkörperung der Welt, damit, wie wir als Mensch die Welt erleben. Als Beispiel lässt sich der Horizont beim Laufen durch die Stadt nennen. Dieser ist in der Regel auf Augenhöhe, wir schauen selten nach oben. Deshalb sind die Erdgeschosse auch so interessant. Durch diese Blickbeziehung entsteht soziale Sicherheit, Interesse und Spannung. Wir brauchen die Interaktion mit der Welt. Und wie wir uns als Mensch mit unseren Körpern und Wahrnehmungsorganen in der Welt zurecht-finden, ist Teil einer menschengerechten Stadt.

Das spielt auch z.B. für die Radwege eine Rolle. Wir wollen andere Radwege bauen, auf denen wir uns sicher fühlen. Damit wird jetzt erst wirklich angefangen. Dies bildet einen ideologischen Kontrast zur autogerechten Stadt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Städte in Europa autogerecht gebaut. Es muss unser Bestreben sein, dass wir das verändern und zeitgerecht weiterentwickeln. So wurde zum Beispiel die Idee der Marktplätze unter Tonnen von Asphalt begraben. Wir wollen die Märkte wieder ausbuddeln und von der Logik her von einer Autoab-fertigungsanlage wieder zu Orten der Begegnungen werden lassen. Wir haben heute natürlich andere Mobilitätsbedürfnisse als damals. Aber die Frage ist trotzdem: Muss man nicht an verschiedenen Orten wieder Orte der Begegnungen schaffen? Und das passiert auch. Diese Ideen einer 15-Minuten-Stadt, einer Fahrradstadt oder einer menschengerechten Stadt können theoretische Fixpunkte sein, um das konzeptionell voranzutreiben.

Als kleines Resümee und Ausblick: Wie sieht Ihre Utopie für ein klima- und mobilitätsgerechtes Hamburg im Jahr 2040 aus?

Tjarks: Wir haben einen viel größeren ÖPNV zu attraktiven Preisen! Bis 2040 wollen wir mindestens 36 neue Bahnhöfe gebaut haben. Wir werden emissionsfrei und leiser sein. Die Gesamtmenge der Autos wird deutlich reduziert, aber auch durch autonome On-Demand Mobility in der Fläche anders vertreten sein. Außerdem haben wir ein durchgehend sicher befahrbares Fahrradwegenetz mit entsprechenden Abstellmöglichkeiten vor der Haustür und bei der Arbeit. ­Zusätzlich werden wir den Grünanteil an der Straßenverkehrsfläche erheblich erhöht haben, um so auch insge-samt das Zufußgehen attraktiver zu machen. Entsprechend des Hamburg Taktes, wird es außerdem möglich sein, überall in Hamburg innerhalb von 5 Minuten ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen.

Um diese Bedienqualität in die Fläche der Stadt zu bringen, brauchen wir in Gebieten mit einer niedrigen Besiedlungsdichte Alternativen zu den konventionellen ÖPNV-Angeboten wie Bus oder Bahn. Diese Alternative wird die autonome On-Demand Mobility darstellen. Mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit ergeben sich dabei verschiedene Möglichkeiten, zum Beispiel, dass die Fahrten zur nächsten Bahnstation im HVV-Abo inklu-diert sind. Entsprechende Modelle und Konzepte stehen noch nicht fest und müssen noch entwickelt werden.

Anjes Tjarks ist Senator für Verkehr und Mobilitätswende in Hamburg.

Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg