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Artikel Netzwerk Wohnprojekte für besondere Zielgruppen

Wahrhaftig ein Stück Menschlichkeit!

Kollektiv in Quarantäne: Wie eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz die Coronakrise übersteht

*** von Ulrike Petersen ***

Altwerden in Gemeinschaft: Unter diesem Motto wurde 2005 die Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften unter dem Dach von STATTBAU HAMBURG installiert.

Als öffentlich geförderte und unabhängige Servicestelle steht sie Bürger*innen und Institutionen mit Rat und Tat zur Seite, wenn es um innovative Wohnformen für Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf geht. 15 Jahre Hamburger Koordinationsstelle … eigentlich war in diesem Jahr Jubiläum angesagt, aber dann kam Corona! Aus diesem Grunde wird hier nicht von den Erfolgen und Stolpersteinen der Planung und Praxis kollektiver Wohn- und Hausgemeinschaften berichtet, sondern von einem „wahrhaftig starken Stück Menschlichkeit!“

MÄRZ 2020 – DIE ALLGEMEINVERFÜGUNG TRITT IN KRAFT

Am 15. März 2020 trat in Hamburg die Allgemeinverfügung zur Eindämmung des Coronavirus in Kraft. Im Laufe der folgenden Wochen und Monate, in denen Zusammenkünfte wie z. B. das WG-Angehörigenforum, das seit 2007 gemeinsam mit Alzheimergesellschaft Hamburg e. V. durchgeführt wird, nicht mehr „analog“ möglich waren, wurde der Austausch im WG-Netzwerk digital aufrechterhalten. In diesem Kontext sind zwei Interviews entstanden, die über die Landesgrenzen hinaus beeindruckten.
Im Folgenden wird das erste Interview mit der Angehörigensprecherin der WG abgedruckt. Das zweite Interview, an dem auch ein Teammitglied des ambulanten Pflegedienstes teilgenommen hat, finden Sie auf der Homepage unter https://www.koordinationsstelle-pflege-
wgs-hamburg.de
.

MAI 2020 – 1.INTERVIEW MIT EINER ANGEHÖRIGEN-SPRECHERIN

Wann und wie haben Sie festgestellt, dass die WG von dem Coronavirus betroffen war?
Wir haben schon Anfang März gemerkt, dass mit einigen Bewohnern etwas nicht stimmt. Es kamen alle Symptome vor, die man mittlerweile kennt. Wir hatten durchgehend recht schnell sieben Bewohner und vier Mitarbeiter vom Pflegedienst, die vom Virus betroffen waren.

Wie groß waren Ihre Sorgen und Ängste?
Wir hatten sehr große Angst, da alle betroffenen Bewohner einen schweren Verlauf hatten. Es war furchtbar, dass wir als Angehörige nichts tun und nur hoffen konnten.

Hatten Sie sich mit dem Pflegeteam auf die Pandemie im Vorfeld vorbereitet?
Wir haben uns schon im Februar erstmalig mit dem Thema auseinander­gesetzt und ein Worst-Case-Szenario mit dem Pflegedienst diskutiert und dann so auch umgesetzt. Der Pflegedienst hatte zum Glück vorsorglich mit Vorausschau auf die Ereignisse Schutzkleidung und Desinfektionsmittel ausreichend für alle beschafft. Und sich rechtzeitig um Testmaterial gekümmert.

Was wurde entschieden und praktisch unternommen, als bekannt wurde, dass die WG von Corona betroffen ist?
Unsere Angehörigengruppe und der Pflegedienst waren sich sofort einig, dass wir hier alle Maßnahmen ergreifen müssen, die auch in einem Pflegeheim ergriffen wurden. Sofortiger Besucherstopp und Schutzkleidung für den ­Pflegedienst.

Wie lief die Kommunikation unter den Angehörigen und mit dem Pflegedienst?
Wir haben die dringende Kommunikation direkt per WhatsApp gemacht. Das machen wir auch sonst. Angehörige und Pflegedienst. Jeden Abend bzw. auch mehrmals am Tag falls notwendig, eine Nachricht per WhatsApp und in der schwierigen Zeit mit Anrufen durch die Teamleitung, durch die Pflegedienstleitung und auch die Geschäftsführung des Pflegedienstes.

Haben Ärzte, das Gesundheitsamt und eventuell andere Personen/ Institutionen von außen unterstützt?
Ja, da dies meldepflichtig ist, hatten wir sofort Kontakt zum Gesundheitsamt und entsprechenden Ärzten, welche uns sehr gut begleitet haben. Alle wichtigen Abstimmungen mit dem Gesundheitsamt hat die Geschäftsführung unseres Pflegedienstes für uns übernommen. Das lief alles sehr professionell ab. Und wir bekamen als Angehörige sofort alle notwendigen Informationen.

Zwei Wochen gemeinsame Quarantäne mit dem Pflegeteam: Wie sah der ­Alltag in der WG aus?
Unser großes Glück ist unser Pflegeteam. Sie sind einfach in die WG eingezogen. Da auch sie betroffen waren, entschied das Team seine Quarantäne in der WG durchzuführen. Sie hätten es zu Hause nicht ausgehalten, wenn sie ihre Bewohner alleine gelassen hätten. Da unser Pflege-Team zum Glück nur leichte Symptome hatte bzw. auch negativ getestet wurde, konnten sie unsere betroffenen Bewohner weiterhin pflegen und versorgen. Und es wurde nicht notwendig mit Notbesetzungen (fremde Menschen und unsicheres Umfeld) zu arbeiten.

Wie haben Sie es zusammen mit dem Pflegedienst geschafft, die alltägliche Versorgung aufrecht zu erhalten?
Wir haben in den ersten Tagen in der Angehörigengruppe alle Einkäufe übernommen, um den Pflegedienst vor
Außenkontakt zu schützen. Dann haben wir zusätzlich ein kleines Bistro beauftragt, das Essen für alle zu kochen. Für alle weiteren Einkäufe haben wir einen Lieferdienst gefunden, der uns auch als „kleinen Kunden“ belieferte und das nun auch weiterhin tut.

Wie ist es den erkrankten WG-Mitgliedern und den Pflege-mitarbeiter* innen gesundheitlich ergangen?
Es war eine sehr harte Zeit. Da es unseren Bewohnern sehr schlecht ging durch den schweren Verlauf, mussten wir täglich mit allem rechnen. Ein Auf und Ab im Zustand der Bewohner und in der Hoffnung auf ein gutes Ende. Wir haben ca. 5 Wochen durchgehend gegen das Virus gekämpft. Das Pflegeteam hat 24 Stunden die Bewohner durch diese Zeit begleitet und sie wieder gesund gepflegt.

Gab es bedrohliche Situationen?
Ja, denn die Bewohner wurden immer schwächer und hatten nicht mehr viel entgegenzusetzen.

Musste jemand ins Krankenhaus?
Nein, zum Glück nicht, denn wir brauchten bei keinem eine künstliche Beatmung.

Fazit: Was hat geholfen, was war wirklich gut und wichtig, um diese Krise zu meistern?
Wir haben es unserem Pflegeteam zu verdanken, dass es alle geschafft haben. Sie haben unermüdlich unsere Lieben betreut, als wenn es ihre eigenen Mütter oder Väter wären. Es wurde geweint und gelacht. Aber durch das Menschbleiben in Krisenzeiten sind alle gut durch diese Zeit gekommen. Wir glauben, dass wir ohne dieses Pflegeteam unsere Lieben verloren hätten. Uns hat auch geholfen, dass wir als Angehörige zusammen­gehalten und ohne Diskussionen funktioniert haben. Wenn Aufgaben zu erledigen waren, haben wir innerhalb von Minuten die Lösung auf den Weg gebracht. Des Weiteren haben wir uns
gegenseitig durch viele Telefonate miteinander gestützt und aufgebaut. Wir haben dadurch die Hoffnung nicht
verloren und es war tröstlich zu wissen, dass wir uns aufeinander verlassen
können. Und unsere Lieben von ihrem vertrauten Pflegeteam betreut und versorgt werden.

Was würden Sie anderen WGs empfehlen?
Man muss die eigenen Bedürfnisse zurückstecken und vertrauen. In diesen Zeiten helfen nur klare Kommunikation und Handeln ohne Diskussion. Jede
Verzögerung kann den Bewohnern schaden. Offenheit und Austausch über jede kleine Veränderung ist ein Muss. Unterstützt euren Pflegedienst mit allem, was von außen zu bewerkstelligen ist. Alle Aufgaben, die von der Pflege abhalten und Zeit kosten, delegieren. Und Zusammen halten. Nur als Team schafft man das.

Wie geht es den Menschen in der WG jetzt?
Es geht allen gut. Wir halten uns noch immer an die Regeln und schützen, wo wir können. Es gibt noch Negativfälle, die wir nicht gefährden wollen. Letztendlich wissen wir ja nicht, ob es nun eine Immunität gibt oder wir wieder ansteckend sind. Kein Risiko eingehen ist unsere Devise!

SEPTEMBER 2020 – DAS ANGEHÖRIGENFORUM FINDET WIEDER STATT

Mit gebührendem Abstand fand im September 2020 das Forum der An- und Zugehörigen endlich wieder analog statt. Selbstredend ging es – auch – um das Thema Corona, um die guten und weniger guten Erlebnisse, um kritische Ereignisse und die Bewältigung praktischer Alltagsfragen und die enormen psychosozialen Belastungen auf Seiten der Familien und der Pfleger*innen. Was lernen wir daraus? Wohlwissend, dass die Infektionsgefahr noch nicht überstanden ist, wird die Koordinationsstelle gemeinsam mit den Beteiligten das WG-Netzwerkes diese Erfahrungen in den kommenden Monaten aufarbeiten und praxisbasierte Empfehlungen veröffentlichen.

Ulrike Petersen ist Mitarbeiterin bei STATTBAU HAMBURG und dort in der Hamburger ­Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften tätig.

Kontaktbörse Baugemeinschaften

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zuerst veröffentlicht: FreiHaus 25(2020), Hamburg