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Klimagerecht leben im Quartier

Interview mit Michael Baumgartner und Stefania Koller, Vorstandsmitglieder Verein Neustart Schweiz

*** Gesprächsführung: Joscha Metzger ***

Der aus der Schweiz kommende Verein „Neustart Schweiz“ hat ein sozial-ökologisches Modell vernetzter Nachbarschaften entworfen, in dem klimagerechtes Leben möglich ist und dabei Lebensqualität gewonnen werden kann. Das einzige, was dafür zu tun ist, ist radikal miteinander zu teilen.

STATTBAU: Stefania und Michael, was hat euch motiviert, im Verein Neustart Schweiz mitzuwirken?

Stefania: Mich fasziniert die ganzheitliche Denkweise und die Antworten, die Neustart Schweiz und das Nachbarschaftsmodell auf die aktuellen globalen Krisen in den Bereichen Ökologie und Politik geben, sowie die Spannbreite zwischen real umgesetzten Projekten und dem Visionären. Es entsteht hier ein Spannungsfeld, wo sich Realität, Aktivismus, Vision und Wissenschaft treffen.

Michael: Nachdem ich bei Greenpeace gearbeitet hatte, wo die Arbeit vor allem auf Probleme fokussiert ist – Kampagnen gegen Umweltzerstörung –, war ich auf der Suche nach einem neuen Engagement, das auf Lösungen fokussiert. Sehr inspiriert hat mich der Film „Tomorrow“, in dem prak-tische Lösungsansätze für eine bessere, da nachhaltigere, Welt aufgezeigt werden. Da es keine Tomorrow-­Organisation gibt, bin ich dann zu Neustart Schweiz gekommen. Auch wenn ich kein Zahlen-Freak bin, begeistert mich hier, dass konkrete Indikatoren geliefert werden, wie eine andere Welt funktionieren kann.

STATTBAU: Könnt ihr mir eure Ideen von Nachbarschaften und Commons-Quartieren beschreiben? Wie gewinnen wir in der Zukunft Lebensqualität, indem wir miteinander teilen?

Michael: Die allermeisten Menschen leben – auch wenn sie pendeln – vorrangig in ihrer Nachbarschaft, in ihrer kleinen Welt. Wir schauen uns diese kleine Welt an und fragen uns: Was brauchen wir hier? Was soll hier vorhanden sein, damit wir uns wohl fühlen? So kommen wir zur Nachbarschaft. Diese Nachbarschaft kann Commons sein, dann gehört sie allen und ist gemeinschaftlich. Oder sie ist – im anderen Extrem – komplett privatisiert. Wir widersprechen der Auffassung, die sich in der „Tragik der Commons“ gebündelt hat, dass das, was allen gehört, verwahr-lost. Eigentlich sehen wir heute genau das Gegenteil. Privatisierung führt zur Verödung. Wenn etwas Vielen gehört, dann tragen auch eher viele dafür Sorge.

Stefania: In Bezug auf die Zahlen hat ein Ökobilanzexperte ausgerechnet, wie viele Ressourcen für die Weltbevölkerung übrigbleiben, um umweltgerecht zu leben. Diese Zahlen gehen mit Szenarien von großen Einschränkungen einher, die sehr abschreckend sind. Das wollen wir vermeiden. Es bedarf eines strukturellen Wandels und wir sehen eine Lösung in Form von neuen Nachbarschaftsmodellen. Wir wollen zeigen, wie wir in multifunktionalen, gemeinschaftlich organisierten Nachbar-schaften ressourcenschonend leben können. Dabei liegt der Fokus gar nicht auf der Ressourcenschonung, das ist eher ein Nebenprodukt. Wenn ich meine Nachbar*innen kenne, dann kann ich ganz viele Alltagsprobleme mit ihnen lösen. Wenn ich zwanzig Leute kenne, die bereit sind, auf mein Kind kurz aufzupassen, dann ist das eine extreme Alltagserleichterung. Oder wenn es ums Rasenmähen geht: Wenn ich das Werkzeug anschaffen muss, kostet das Geld und Platz. Man kann das auch alles miteinander teilen. Es gibt viele Dinge, des alltäglichen Gebrauchs, die niemand von uns besitzen müsste, die wir aber alle nutzen könnten. Außerdem geht es um die Frage des Mitbestimmens: Brauchen wir eine Kita oder lieber eine Werkstatt? In einer normalen Mietwohnung kann ich kaum mitreden, was dort geschieht. Das ist für viele Menschen eine große Unsicherheit. Wenn wir uns in Nachbarschaften selbst organisieren – sei es in einer Genossen-schaft, einem Verein oder wie in Deutschland weit verbreitet, dem Miets-häusersyndikat –, dann fällt diese Unsicherheit weg.

Michael: Wie praktisch ist es, wenn Basisbedürfnisse in meiner kleinen Welt gestillt werden können. Ich kann mit meiner Nachbarschaft ein Abonnement bei einem Landwirtschaftsbetrieb haben und der bringt uns dann jede Woche die Lebensmittel. Ohne dass ich in ein Geschäft gehen muss und mir den Kopf darüber zerbreche, wo die Waren herkommen.

STATTBAU: Welche Rolle spielt die Größe von 500 Menschen in der Nachbarschaft und Quartieren mit 20.000 Menschen? In euren Publikationen erscheinen die Zahlen sehr prominent?

Stefania: 500 Menschen ist eine ungefähre Größe. Es geht darum, dass wir gemeinsam mehr stemmen können. Andersrum bietet eine solche Nachbarschaft auch Privatsphäre. Man soll sich kennen, aber auch die Möglichkeit des Rückzugs haben. Es müssen nicht alle Menschen immerzu am ganzen Nachbarschaftszirkus teilnehmen. Quartiere bieten das, was Nachbarschaften nicht leisten können. Bildung und Kultur finden sicherlich stärker dort statt. Ausgehend von der Annahme, dass sich ein Quartier aus rund 40 Nachbarschaften zusammensetzt, kommen wir auf die Zahl 20.000. In Zürich leben in den meisten Quartieren zwischen 6.000 und 25.000 Bewohner*innen, die Quartiere sind jedoch nicht besonders dicht und flächenmäßig viel grösser, als von uns vorgeschlagen.

Michael: Unser Modell basiert auf globalen Modulen. Die Nachbar-schaften sind eine Weiterentwicklung der Haushalte. Da hört es aber nicht auf. Die Welt besteht aus ganz vielen Nachbarschaften. Die nächstgrößere Ebene ist das Quartier. Danach kommt die Stadt oder die Landregion, die sich aus mehreren Quartieren oder Dörfern zusammen-setzt. Die ent-sprechenden Infrastrukturen wie Polizei, Krankenhäuser, etc., sollen dabei in Bezug auf die Anzahl nicht von oben vorgegeben werden, sondern sich von unten heraus entwickeln. Die Verteilung der Infrastruk-turen soll auf den verschiedenen Quartieren respektive Dörfer verteilt werden, so dass auf der nächstgrößeren Ebene, der Stadt oder der Region alles vorhanden ist. Und dann haben wir ja noch die Territorien und als größte Einheit, die Erde. Wir verhalten uns gerade im sogenannten Globalen Norden so, als ob es von der Erde mehrere gäbe, was ein gefährlicher Irrtum ist.

STATTBAU: Was haltet ihr von Ansätzen wie der 2000-Watt-Gesellschaft oder der 15-Minuten-Stadt?

Stefania: Diese Begriffe bzw. Labels sind zu eng. Sie fokussieren auf ein Thema oder auf einen Aspekt. Oft wird das Soziale dabei zu wenig berücksichtigt. Labels sind Fluch und Segen zugleich: Sie können kom-plexe Themen vermitteln. Bleiben im Kopf hängen. Auf der anderen Seite umfassen sie oft zu wenig. Man läuft Gefahr, das ganze Bild aus dem Blick zu verlieren. Wenn wir uns das Ausmaß der globalen Krise vergegen-wärtigen, kann das problematisch sein. Die Stärke unserer eigenen Modelle und Konzepte ist, dass wir diesen Ansätzen gerecht werden, ohne nur darauf zu fokussieren.

Michael: Diese Größen bringen Aspekte von Bedürfnissen auf den Punkt als abstrakte Zahl. Das ist für die Kommunikation wichtig. Man darf aber die Geschichte, das Narrativ darüber hinaus nicht ­vergessen.

STATTBAU: Gibt es ein Projekt oder eine Kommune, in dem oder der die Ideen der Initiative Neustart Schweiz bereits praktisch gelebt oder erprobt werden?

Stefania: Alles in Einem gibt es bisher nicht. Aber es gibt viele spannende Projekte, das sind aber oft Neubauten, weil es im Bestand viele Hinder-nisse gibt. Im Genossenschaftsbereich sind das zum Beispiel die bekannte Kalkbreite in Zürich. Konkret auf Neustart Schweiz beziehen sich die Lena, Lebenswerte Nachbarschaft, in Basel und das Warmbächli in Bern. Zwischen der Genossenschaft Mehr als Wohnen und der SoLaWi-Initiative Mehr als Gemüse gibt es zum Beispiel eine enge Kooperation.

STATTBAU: Könnt ihr mir skizzieren, wie wir vom Jetzt-Zustand zu Nachbarschaften kommen, die ihr euch vorstellt? Wie geht die Transformation vor sich?

Michael: Da haben wir zwei Möglichkeiten: Die Keule von oben oder die Einsicht und Initiative von unten. Vorgaben von oben gefallen den Machteliten. Wir sagen, die Transformation muss von unten kommen, damit sie nachhaltig ist. Auch wenn die Prozesse von unten logischerweise mehr Zeit brauchen. Gemeinschaften entstehen immer dann, wenn Menschen anfangen, ihre Lebenswelt gemeinsam zu gestalten. Und das entsteht ja erstaunlicherweise, wenn wir genau hingucken, überall und ganz viel. Ich bin immer wieder berührt, wenn ich höre, dass Gemeinschaften sich ihre Häuser, den Boden – die privat waren – zurückholen.

Stefania: Wir haben die Haltung, dass bautechnisch schon alles vorhanden ist. Wir wollen innerhalb der bestehenden Stadtstruktur umnutzen, verdichten und neugestalten. Das Problem ist, dass viele Grundstücke und Gebäude in Privat- oder Konzernbesitz sind. Als Gemeinschaft müssen wir versuchen, da an Teile des Kuchens dran zu kommen.

Weitere Infos zum Verein Neustart Schweiz finden sich unter: https://www.neustartschweiz.ch/nach-hause-kommen/

Stefania Koller ist Architektin und Stadtplanerin sowie Vorstandsmitglied bei Neustart Schweiz.
Michael Baumgartner, Ausbildung in sozialer Arbeit, Studium angewandter Ethik, arbeitete zuletzt bei Greenpeace und aktuell in der Erwachsenenbildung. Er ist ebenfalls im Vorstand bei Neustart Schweiz.

Cover der Freihaus Ausgabe Nr. 26, erschienen im Dezember 2022

zuerst veröffentlicht: FreiHaus 26(2022), Hamburg